Gerüchte

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Tage vergingen, die sich zäh hinzogen und nicht zu enden schienen. Die anfängliche Freude über ihr Überleben war bitterer Resignation gewichen. Sie war zwar am Leben, doch Tomoe war im Grunde nicht mehr als eine Gefangene. Ihre Welt war auf die Größe von Allys Raum geschrumpft und sie war völlig auf ihre beste Freundin angewiesen, die ihr Essen mit nach oben schmuggelte und sie über alle Neuigkeiten informierte. Währenddessen musste Ally ihre Rolle weiterspielen und so tun, als wäre alles in bester Ordnung und als würde es ihr keine Übelkeit bereiten, mit welcher Selbstzufriedenheit ihr Vater erzählte, dass die Werwölfe fast ausgerottet waren. Das Einzige, was den beiden jungen Frauen im Moment Hoffnung spendete, war die Tatsache, dass sich erste kritische Stimmen meldeten, die den Schritt der Regierung zu tiefst verurteilten. Unter anderem an ihrer Schule hatte sich eine kleine Gruppe an Schülern zusammengeschlossen, die sich dafür einsetzen wollten, der Verfolgung der Werwölfe ein Ende zu bereiten. Taro war daran nicht ganz unbeteiligt, er war bei den Schülern immer beliebt gewesen und stimmte so gar nicht mit dem Bild eines gefährlichen Werwolfs überein, welches die Regierung vermitteln wollte.

Wenn der Name ihres Bruders in Allys Erzählungen fiel, zuckte Tomoe stets zusammen. Egal wie oft sie ihn hörte, noch immer konnte und wollte sie nicht akzeptieren, dass ihr Bruder tot sein sollte. Im Schlaf sah sie ihn oft vor sich. Lebendig. Lächelnd, mit seinen Grübchen im Gesicht, die er so hasste, wo sie doch einfach zu ihm gehörten. Manchmal waren ihre Träume so realistisch, dass sie glaubte, wirklich wieder mit ihm vereint zu sein. Er erzählte ihr dann seine schlechten Witze, über die für gewöhnlich nur sie lachte oder saß neben ihr im Auto und sang unbeschwert irgendeinen Song mit. Sie genoss es, in diesen Träumen zu versinken und sich mit ihnen treiben zu lassen, als seien sie keine Bilder ihrer Fantasie, sondern echt. Aber jeder Traum fand ein Ende und dieses spielte sich immer wieder auf dieselbe unerträgliche Art und Weise ab. Es kennzeichnete sich durch den Augenblick, indem Taro sie umarmen wollte. Jedes Mal, wenn sie sich in die Wärme seiner Arme fallen lassen wollte, verschwanden die Träume und ließen sie in das Bett neben Ally zurückkehren. Und trotz ihrer besten Freundin neben sich und der warmen Decke, die sie sich um den Körper geschlungen hatte, ergriff dann eine Kälte von ihr Besitz, die sie zittern ließ.

Ally erzählte sie von diesen Träumen nichts, sie tat ohnehin schon so viel für Tomoe, da wollte sie sie nicht auch noch mit ihren Sorgen belasten. Obwohl die Kälte mit jeder Nacht an Intensität gewann, sie weiter quälte und es ihr unmöglich machte neue Kraft zu schöpfen. Ally schien ohnehin etwas zu ahnen. Ihre Blicke waren in den letzten Tagen wachsamer geworden und sie berichtet längst nicht mehr so frei wie am Anfang. Sie wählte ihre Worte mittlerweile sorgsam aus und ging geradezu vorsichtig mit Tomoe um. Tomoe war sich sicher, dass sie ihr manches gar nicht erst erzählte. Doch sie nahm es Ally nicht übel, sondern dankte ihr im Stillen, weil sie sich nicht sicher war, ob sie es verkraftet hätte von weiteren Toten und ausgerotteten Rudeln zu hören. Dabei fragte sie sich unwillkürlich, wie viele ihrer Art noch lebten. Es war unmöglich diese Gedanken zu verdrängen, weil die Zeit ohne Ally, wenn diese zur Schule ging, viel zu lang war, um sich irgendwie zu beschäftigen und die grausigen Bilder aus den Nachrichten zu vergessen.

Es war genau eine Woche nach ihrem unfreiwilligen Einzug bei Ally, als Besagte mit ungewöhnlich ernster Miene nach Hause kam und damit Tomoes Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Werwölfin hatte bis eben auf dem Bett gelegen und wie unzählige Male an die Decke gestarrt, um irgendwelche Muster in der Tapete zu entdecken und sich abzulenken. Nicht, dass das sonderlich von Erfolg gekrönt gewesen wäre. Aber Allys Miene ließ sie ihre Bemühungen vergessen und sorgte dafür, dass sie sich kerzengerade aufsetzte. Irgendetwas musste vorgefallen sein, doch sie ersparte sich das Nachfragen, weil Ally sich bereits auf das Fußende des Bettes setzte und selbst zu erzählen begann.

Die VerbliebenenOù les histoires vivent. Découvrez maintenant