Erinnerungen an eine andere Zeit

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Tomoe wusste nicht was schlimmer war: Die Tatsache, dass man die Filmaufnahmen in keiner Weise zensiert hatte und sie in all ihrer Brutalität und Respektlosigkeit gegenüber den Toten zeigte, oder dass anschließend Politiker auf dem Bildschirm erschienen, die sich für eben jene Aufnahmen auf die Schultern klopften und sich als stolze Bezwinger des Werwolfproblems präsentierten. Immer wieder betonten sie, dass es ohne ihr Eingreifen zu einem Krieg gekommen wäre und dass die Werwölfe nichts weiter als hinterhältige Tiere gewesen sein, die ganz bewusst im Verborgenen gelebt hätten, um ihren Angriff auf die Menschheit zu planen. Tomoes Hände ballten sich zu Fäusten. Am liebsten hätte sie sich auf die Männer gestürzt, die diese Lügen in die Welt hinausposaunten. Die Wahrheit hätte nicht weiter entfernt sein können, von dem was sie sagten. Die Werwölfe hatten sich lediglich nie zu erkennen gegeben, weil sie nichts weiter als Frieden wollten. Die Sicherheit des Rudels war ihr oberstes Gut und niemand wäre so töricht gewesen, diese aufs Spiel zu setzen. Es war, als hätten sie geahnt, dass die Menschen die Wahrheit nicht ertragen konnten.

Sie starrte noch lange auf den Bildschirm, auch als dieser schon der Bilder beraubt und in tiefes Schwarz getaucht war. Ally musste ihn ausgeschaltet haben. Sie hatte Tomoe irgendwann zu sich aufs Bett gezogen und sie fest in die Arme geschlossen. Nur der Mondschein erhellte jetzt noch das Zimmer und warf sein Licht auf die beiden Mädchen, die sich fest aneinanderpressten und nicht mehr rührten.

„Wir finden einen Weg", flüsterte Ally leise, „Es muss einen geben. Aber wir müssen klar im Kopf sein, also schlaf, hier wird uns nichts passieren."

Ihre Worte waren tröstlich gemeint. Tomoe wusste das, aber das änderte nichts daran, dass Ally sie keinesfalls beruhigen konnte. Die junge Werwölfin wusste, dass so wie die Lage derzeit aussah, die Wahrscheinlichkeit viel höher war zu scheitern, als zu gewinnen. Bis zu dem heutigen Tag hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht zu sterben. Das Risiko dafür war viel zu gering gewesen. Werwölfe waren langlebig und nur selten krank, mit geschärften Instinkten und Reflexen ausgestattet, die sie vor den meisten Unfällen bewahrten. Die meisten von ihnen starben erst im hohen Alter und bisher war sie davon ausgegangen, dass es bei ihr nicht anders sein würde. Aber die Karten waren nun neu gemischt worden und das Blatt auf ihrer Hand ungewiss. Nichts und niemand konnte ihr garantieren, dass der nächste Tag nicht ihr letzter sein würde. Das stellte sie vor Fragen, die sich ihr noch nie gestellt hatten und die es unmöglich machten, Ally in einen tiefen Schlaf zu folgen. Während sie den ruhigen und gleichmäßigen Atemzügen ihrer Freundin lauschte, stellte sie sich vor, wie es wäre zu sterben.

Sie stellte sich den Tod als großes schwarzes Loch vor, eine allumfassende Dunkelheit, die jede Erinnerung mit sich riss und sich einverleibte, um sie im Nichts verschwinden zu lassen. So sehr sie es auch versuchte, es gelang ihr nicht, sich ausmalen, wie es sich anfühlen musste. Nichts zu fühlen. Nichts zu sein. Aber im Vergleich zu dem, was sie durchleben würde, bis die Dunkelheit sie ergreifen würde, war dieses Nichts vielleicht doch weniger beängstigend, als es im ersten Moment wirkte. Mit einem Mal wirkte es friedlich, der Tod weitaus versöhnlicher als das Sterben. Vielleicht würden die Flammen sie holen, wie es bei einigen Rudelmitgliedern der Fall gewesen war. Vielleicht ein Schuss. Den würde sie den Hunden vorziehen. Doch sie wusste nur zu gut, dass der Tod keine Wünsche gewährte, sonst hätte er ihre Liebsten verschont.

Dabei dachte sie zurück an ihre Eltern, fragte sich, was mit ihren Körpern geschehen war, aber alle erdenklichen Szenarien zerrten erneut an ihrem Magen, also beließ sie es dabei den Gedanken wieder zu verdrängen und stattdessen in Erinnerungen an Taro zu schwelgen. Ein Teil von ihr wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass er noch irgendwo da draußen war. Ihr Bruder war immer stark gewesen, wie es sich für einen zukünftigen Alpha gebührte und sie hatte stets zu ihm hinauf geschaut. Sie konnte und wollte nicht glauben, dass er diesem Angriff so leicht zum Opfer gefallen war und die Tatsache, dass sie ihn nirgendwo gesehen hatte, gab ihr in dieser Hinsicht Halt. Es war ein Funke, ein Schimmer, etwas, das sie bei Verstanden bleiben ließ, auch wenn es nicht viel war, an das sie sich klammern konnte. Die Erinnerungen hielten sie am Leben. Sie und Ally. Sie dachte daran, wie sie sich als kleines Mädchen aus dem Haus geschlichen hatte, um den älteren Wölfen heimlich auf die Jagd zu folgen, obwohl sie es gar nicht durfte. Natürlich war sie viel zu langsam gewesen und hatte ihre Spur irgendwann im Wald verloren. Aus dem erhofften Abenteuer, die Erwachsenen das erste Mal bei der Jagd beobachten zu können, war ein Desaster geworden. Plötzlich war sie im Wald allein gewesen, winselnd und überfordert, nicht einmal mehr in der Lage sich ihren Weg zurück zu suchen, weil die Aufregung ihre Nase nicht mehr richtig arbeiten ließ. Dicke Tränen waren aus ihren Welpenaugen gerollt, bis sie sich auf dem Waldboden zu einer Kugel zusammengerollt hatte, in der festen Überzeugung, niemals wieder nach Hause zu finden.

Es war Taro gewesen, der sie ein paar Stunden später aufspürte. Völlig außer Atem, aber unendlich erleichtert, war er schwanzwedelnd auf sie zugelaufen und hatte sie mit seiner Zunge abgeschleckt, um sie zu beruhigen. Anschließend hatte er sie gebeten, sich zu verwandeln und er hatte sie den ganzen weiten Weg zurückgetragen. Nie hatte sie sich sicherer gefühlt, als in diesem Augenblick auf seinem Rücken. Immer wieder hatte er zu ihr gesehen und ihr voller Zärtlichkeit eines großen Bruders mit der Nase vorsichtig gegen die Hand gestupst. Tomoe hatte geglaubt, dass er mit ihr schimpfen würde, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Er hatte sie vor dem Ärger ihrer Eltern beschützt, weil er sie besser verstand, als jeder andere. Taro wusste, dass sie nicht besonders stark war und die anderen Welpen sie deshalb nur selten mitspielen ließen. Dabei wollte sie so gern ein anerkannter Teil des Rudels sein und keine Außenseiterin. Seit jenem Tag hatte sie ihm beim Training zusehen und ihn auf kleiner Jagden begleiten dürfen. Auch wenn sie nie eine gute Kämpferin geworden war, so hatte sie sich doch den Respekt der anderen verdient, weil sie sahen, wie sehr sie sich bemühte.

Es waren solche Erinnerungen, die ihr Herz trotz der letzten Ereignisse wärmten und die sie nie vergessen wollte, bis die Dunkelheit sie ihr nehmen würde. Am liebsten wäre sie für immer in diese Erinnerungen entflohen, nur wurde der Mond schon bald durch die aufgehende Sonne abgelöst und sie verfluchte die Welt dafür, dass sie sich einfach weiterdrehte und nicht einmal für einen kurzen Moment in Anbetracht dessen, was geschehen war, innehalten konnte. Schon bald würde Ally erwachen und sie würden Antworten finden müssen. Wege um zu überleben, die es vielleicht gar nicht gab. Die ersten Vögel auf den Bäumen vor dem Fenster begannen bereits ihr erstes Lied und an jedem anderen Tag hätte Tomoe sie dafür bewundert. Nur heute vermochte der Gesang ihre Laune nicht zu heben, sondern zeigte ihr viel mehr, dass mit dem neuen Tag auch eine neue Welt erwacht war. Eine Welt ohne ihr Rudel, die sie so nicht kannte. Sie wandte sich aus Allys Armen, es nicht übers Herz bringend, sie jetzt schon zu wecken, sondern ihr die letzten Minuten des erholsamen Schlafes gönnend und sah hinaus zu den Vögeln, die in eben jener Sekunde verstummten und sich alle auf einmal in die Lüfte erhoben. In rasanter Geschwindigkeit flogen sie durcheinander, der fröhliche Gesang hatte ein Ende gefunden, dafür kreischten sie nun, all ihre Artgenossen warnend, die ebenfalls die Bäume verließen und sich in den Himmel erhoben, um zu fliehen. Tomoes Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen, von dem Verhalten der Vögel verwirrt, auf das sie sich keinen Reim machen konnte. Bis das Geräusch von Schritten im Wald ertönte. Ihre Hände schnellten zum Fensterbrett und verfestigten sich um dieses, als plötzlich mehrere Männer zwischen den Bäumen erschienen. Männer mit Hunden an eisernen Ketten, die ihre Nasen knurrend über den Boden wandern ließen.

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Ich kann mir auch nicht erklären, warum, aber das Geschwister-Thema hat mich schon immer fasziniert, obwohl ich Einzelkind bin xD Daher macht euch also auf viele Taro-Tomoe Momente gefasst, die so ein bisschen zu den Nachfolgern von Sam und Tobias werden könnten :)



Die VerbliebenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt