Rettung

157 12 8
                                    

Irgendwann war es da draußen still. Als habe sich der Sturm gelegt und sei weitergezogen. Sie wagte es nicht zu atmen, weil sie jeden Moment damit rechnete, das alles von vorne beginnen würde. Die Schreie von zuvor hallten noch in ihren Ohren nach. Sie konnte nicht glauben, dass der Schrecken zu Ende sein sollte. Doch solange sie auch wartete, von oben ertönte kein Geräusch. Einzig und allein das Klappern ihrer Zähne war zu hören, verursacht durch das unkontrollierte Zittern, das ihren Körper schüttelte und das sich nicht abstellen ließ. Vorsichtig zwang sie ihre bebenden Beine dazu sich zu strecken und erhob sich aus ihrer kauernden Position. Ihr Herz schlug nun noch schneller, auch wenn sie es nicht für möglich gehalten hatte. Sie konnte ihren Puls jetzt gegen die Innenseite ihrer Kehle hämmern spüren, während sie ein paar Schritte nach vorne stolperte, die Arme ausgestreckt, bis ihre Hände sich um die Griffe der Holzlucke schlossen, die sie von der Außenwelt trennte. Das Holz knarzte und ihren zuckenden Händen, die sich nicht beruhigen lassen wollten. Noch nie hatte sie eine solche Angst empfunden, wie jene die sich gerade in ihr Inneres fraß und die es ihr beinahe unmöglich machte, die Lucke zu öffnen. Sie wollte nicht sehen, was sich dort draußen befand. Sie wollte die Zeit zurückspulen und so tun, als hätte es diesen Tag niemals gegeben, aber sie wusste, dass ihr Wunsch niemals in Erfüllung gehen würde und sie sich der Realität stellen musste. Sie konnte hier nicht länger bleiben, nicht, wo sie nicht sicher sein konnte, was mit Taro und den anderen geschehen war. Ob sie überhaupt noch lebten. Allein die Vorstellung gleich nur noch auf ihre Überreste zu stoßen, ließ eine Übelkeit in ihr aufsteigen, die sie beinahe wieder in die Knie gezwungen hätte. Der Griff ihrer Hände verfestigte sich daraufhin, bis sie schmerzten und ihre Gelenke weiß hervorstanden. Mit aller Macht versuchte sie der Übelkeit Herr zu werden und ihr Herz, sowie ihren Atem zu beruhigen. Sie musste nach draußen und sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Sie dachte an Taro, daran, wie er mit der Situation umgehen würde, ganz der Alphassohn, der er war. Das half ein wenig. Genug um die Lucke zu öffnen.

Sofort kam ihr Rauch entgegen, einer, der sie zum Husten brachte und es fast unmöglich machte etwas zu sehen. Deshalb stolperte sie eilig die Stufen nach oben empor, bis sie ihr sicheres Versteck verlassen hatte und wischte sich hastig über die Augen, um die Asche, die der Rauch in ihre Augen getrieben hatte, zu entfernen. Als sie ihre Sicht endlich wiedererlangt hatte, erstarrte sie. Das Zittern fand ein plötzliches Ende, es blieb aus, genau wie ihr Herzschlag. Was sie zu sehen bekam, stellte selbst das in den Schatten, was sie sich ausgemalt hatte. Ihr Elternhaus stand in Schutt und Asche. Und sie mitten drin. Von dem Haus, was sie jahrelang begleitet hatte, indem sie aufgewachsen war, war nicht mehr als ein paar Mauerreste übrig, die sie umgaben. Die Hoffnung, dass der Rest des Dorfes verschont geblieben war, verflüchtigte sich, sobald sie die Kraft fand, sich umzusehen. Überall brannte es. Überall zischten Funken aus den Häusern empor, über denen dicke Rußwolken lagen. Und doch hörte man außer dem Knistern des Feuers und dem Zusammenbrechen mancher Hausteile nichts. Diese Ruhe war das Schlimmste an der ganzen Szenerie. Sie wollte schreien. Nach Taro und den anderen rufen, aber eine unbekannte Kraft hatte sich um ihre Kehle gelegt, würgte sie und nahm ihr die Möglichkeit die Stimme zu erheben. Neuer Rauch umhüllte sie, bis Tränen ihre Wangen herunterliefen und sie auf die Straße hinaus strauchelte, den Mund wie zum Schrei geöffnet, nur entkam ihm kein Laut. Der Schrecken setzte sich auf der Straße fort, als sie die leblosen Körper einiger Rudelmitglieder entdeckte, die sie geliebt hatte. Nicht weit entfernt sah sie ihre Eltern. Es drehte ihr endgültig den Magen um und während sie sich neben den Mauerresten ihres Zuhauses erbrachs, wurde ihr mit aller Endgültigkeit bewusst, dass sie alleine war. Womöglich die einzige Überlebende des Rudels. Mitten in den Trümmern einer Welt, die alles für sie gewesen war und die niemals wieder dieselbe sein würde.

Ein Teil von ihr starb mit den Toten, als sie noch immer würgend an ihnen vorbeilief und bei ihren Eltern endete. Es war das erste Mal, dass sie dem Tod so nah war und ihm ins Gesicht blickte. Er war schrecklich und grausamer, als sie ihn sich ausgemalt hatte. Einst hatte sie sich gewünscht, ihre Eltern würden im hohen Eltern Arm in Arm einschlafen und gemeinsam nie wiedererwachen. Sie hatte sich diesen Tag friedlich vorgestellt, doch die Realität hätte nicht weiter von ihrem Wunsch entfernt sein können. Der Tod hatte ihnen jedes Leben genommen. Jedes Glück. Zurückgelassen hatte er nur ihre leeren, blutverschmierten Hüllen, deren Gesichter vor Angst und Schmerz verzerrt waren. Irgendwie gelang es Tomoe auf die Knie zu sinken und ihre Augenlieder zu schließen, weil sie das Starren der leblosen Pupillen nicht mehr ertrug. Sie zwang sich den Blick abzuwenden und nach Taro Ausschau zu halten. Sie sah ihn nirgends. Sie schluchzte. Dabei hatte sie seinen Namen rufen wollen, nur wollte ihr das nicht gelingen. Er war nirgends zu sehen. Aber es erklang auch kein Geräusch, das darauf hingedeutet hätte, dass noch jemand außer ihr hier war. Sie war allein und Taro vielleicht nur einer derjenigen, deren Züge nicht mehr zu erkennen waren. Jetzt wo sie den Bunker verlassen und ihre Eltern gefunden hatte, schlich sich die Angst einer Raubkatze gleich wieder an. Tomoe hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Wohin sie gehen sollte. Also rollte sie sich auf dem Boden zusammen, presste sich an ihre geliebten Eltern, die ihr einst Schutz und Liebe geboten hatten und verharrte. Bewegungsunfähig in ihrem Schock gefangen.

Die VerbliebenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt