Die Wahrheit

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Auch wenn Tomoe gerne sofort aufgebrochen wäre, musste sie sich doch damit abfinden, abzuwarten. Sie hatte geglaubt, dass sie sich irgendwann daran gewöhnen würde, aber Sekunden hörten nicht auf sich in Ewigkeiten zu verwandeln und an ihren Nerven zu zerren. Es wurde nicht besser. Eher schlimmer, denn jedes Mal, wenn sie nun zum Fenster hinaussah, stellte sie sich Taro dort draußen vor. Wie er kämpfte. Gegen andere. Um sein Leben. Ob er wusste, dass es ihr gut ging? Ob er wohl an sie dachte? Ob er schon besiegt worden war? Manchmal stellte sie sich diese Fragen. Vorsichtig. Sie nicht wahrhaben wollend. Dann ergriff eine Kälte ihr Innerstes, die sich nicht vertreiben ließ. Egal, wie heiß sie duschte, egal, in wie vielen Decken sie sich vergrub. Am Ende zog eine ganze weitere Woche ins Land, bis Ally herausgefunden hatte, wann der nächste Kampf stattfand. Es hatte sie unheimlich viel Mühe gekostet Mason diese Informationen zu entlocken, weil die beiden noch nie besonders gut miteinander ausgekommen waren, doch er hatte das Angebot von Allys Hilfe bei der nächsten Klausur nicht ablehnen können. Als am Freitagabend feststand, dass sie ihren Plan endlich würden durchsetzen können, zitterten Tomoes Finger wieder so sehr, dass sie kaum in der Lage war, sich die Schuhe anzuziehen. Immer wieder entglitten sie ihren Händen, bis Ally sich zu ihr kniete und ihre Hände ergriff.

„Erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe?", fragte sie flüsternd. Doch Tomoes Mund war zu trocken um ihr zu antworten. Sie traute ihrer eigenen Stimme ohnehin nicht mehr. Fürchtete, sie würde versagen. Noch konnte sie sich zusammenreißen. Sich zwingen fortzufahren, ihrem Ziel zu folgen. Noch konnte sie stehen, wenn auch unsicher. Aber sie fürchtete zu fallen, sobald sie sich erlaubte zu sprechen. Fürchtete, die Angst würde sie übermannen. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde und was es für Folgen für sie haben würde. Doch sie musste es sich ansehen. Sie brauchte Gewissheit und sie würde sich zwingen, die Kontrolle zu behalten, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Weiter wollte sie nicht denken, sich nicht ausmalen, dass sie Taro vielleicht am Boden wiederfinden würde.

„Wir finden einen Weg", wiederholte Ally ihr Versprechen leise und Tomoe versuchte ihr ein dankbares Lächeln zu schenken, das vor lauter Nervosität misslang. Ally ließ sich nichts anmerken, sie griff lediglich nach Tomoes Schuhen und half ihr in diese hineinzuschlüpfen.

Möglichst leise, den Atem anhaltend, schlüpften sie durch das Fenster, schlichen den mittlerweile vertrauten Weg über das Dach entlang, bis hin zu dem davorstehenden Baum, den sie hinunterkletterten. Unentdeckt gelangten sie zu Allys Auto, während Tomoe das Haus nicht aus den Augen ließ, jeden Moment damit rechnend, dass Allys Vater in der Tür stehen und die beiden sehen würde. Doch die Lichter im Haus waren erlosch und blieben es auch. Nur ihre Nerven wollte das nicht beruhigen. Hinter jedem der dunklen Fenster meinte sie ein Augenpaar aufleuchten zu sehen, nur um nach einem Wimpernschlag festzustellen, dass sie sich irrte.

„Meine Eltern schlafen schon lange", flüsterte Ally erklärend und nahm Tomoes Hände für eine Sekunde in ihre, um sie beruhigend zu drücken, doch Tomoes Zittern blieb ihr ewiger Begleiter. Etwas, das sie schon lange nicht mehr bewusst kontrollieren konnte. Die letzten Wochen hatten sie kaputt gemacht. Die Tomoe, die sie noch vor nicht allzu langer Zeit gewesen war, war im Moment nicht mehr als eine dunkle Erinnerung. Der Verlust ihrer Familie und ihres gewohnten Lebens hatte sie brechen lassen und im Augenblick tat sie nichts anderes, als die Scherben, die vor ihr lagen irgendwie zusammenzuhalten, auch wenn sie sich in ihre Haut schnitten und sie weiter zerstörten. Doch es kam nicht in Frage sie loszulassen, diese Scherben waren ihr altes Leben, alles, was sie noch hatte. Ohne sie wären ihre Hände leer, so hatte sie wenigstens etwas, an dem sie sich festhalten konnte.

Allys Worte klangen in ihren Ohren nach, als diese den Wagen startete und sie hinaus in die verregnete Nacht fuhren. Wir finden einen Weg. Sie wollte ihr so gern glauben, aber jeder weitere Tag der ins Land zog, machte es schwerer, die Hoffnung zu erhalten, als sei sie ein Feuer, das bald erlöschen würde, wenn man ihm nicht endlich mehr Kraft verleihen würde. Gerade jetzt, wo sie an all den Häusern vorbeifuhren, die Tomoe nur zu gut kannte, an denen sie auf ihrem Schulweg vorbeigekommen war, fiel es ihr schwer, den Blick nicht abzuwenden und weiter zu atmen, wo sich doch eine unsichtbare Last um ihren Hals schlang und drohte, ihr die Luft zu nehmen. Es wurde erst leichter, als die Häuser weniger wurden und sie die Stadtmitte hinter sich ließen. Dabei sagte keiner von ihnen auch nur ein Wort. Sie schwiegen in stummer Angespanntheit, während die Straßen sie immer weiter hinausführten, bis kaum mehr Straßenlaternen sie erleuchteten und alles danach aussah, als würde sie hier draußen nichts mehr erwarten. Doch irgendwann fielen die Scheinwerfer des Wagens auf dunkle Umrisse riesiger Hallen am Straßenrand. Sie waren einst schnell und wenig sorgsam mit Betonwänden errichtet worden, die nun von der Natur zurückerobert worden waren, das Efeu reichte von den kalten Wänden bis hoch an die Dächer, die aus nicht mehr aus Metallplatten bestanden, die hier und dort bereits große Löcher aufwiesen. Und doch waren die Hallen im Moment nicht mehr verlassen. Überall standen Autos um die Hallen herum, dunkle Gestalten liefen umher, um sich in eine der Hallen zu drängen, die noch am besten erhalten wirkte und aus der Dunkelheit hervorstach, weil sie die einzige Halle war, die von innen erleuchtet wurde. Große Tore machten es unmöglich hineinzusehen, aber durch ihre Ritzen suchte sich das Licht einen Weg nach draußen. Es zeigte ihnen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.

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⏰ Last updated: Nov 04, 2018 ⏰

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