Kapitel 1 - Ryan

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Ryan

Der ohrenbetäubende Klang meines Weckers riss mich aus meiner traumlosen Nacht. Gestern hatte Mutter mir am Esstisch berichtet, ich solle 12 Monate freiwillige soziale Arbeit leisten, die direkt heute begann. In einer Psychiatrie für Jugendliche und junge Erwachsene. Meine Motivation in eine Einrichtung zu gehen, die voll mit selbstmordgefährdeten oder ähnlichen Menschen war, hielt sich in Grenzen. Und ich hatte ständig Bilder von Zwangsjacken und vergitterten Zimmern vor Augen. Was sich Mutter dabei dachte, wüsste ich auch gerne, jedoch war ihre einzige Bemerkung, dass es in meinem Lebenslauf gut aussehen würde.
Ich war überhaupt kein Morgenmensch, weshalb ich mich auch aus meinem Bett rollte, anstatt wie ein normaler Mensch aufzustehen. Als meine Füße den Boden berührten, ging ich ins Badezimmer, wo ich in gerade mal 5 Minuten duschen war und mir schließlich die Zähne putzte, sowie meine Haare etwas richtete.
Meine Klamottenwahl fiel auf ein schlichtes weißes Shirt und eine schwarze Hose.

Kurz ging ich noch in die Küche um irgendwas zu essen ehe ich mich in die anschließende Garage begab, wo schon mein Motorrad auf mich wartete. Mit einer geschickten Bewegung setzte ich mir den Helm auf und schwang mich auf mein Baby.
Ich hatte mich zum Glück gestern über den Standort der Einrichtung informiert, somit war ich in kürzester Zeit dort und bekam noch einen Parkplatz. Ich öffnete die große Holztür und trat in das große Gebäude ein. Ein langer, leerer und kahl wirkender Flur erstreckte sich vor mir und auf meiner rechten befand sich der Empfang. Dort stellte ich mich kurz vor und bekam direkt einen Mitarbeiter zugewiesen. Er führte mich dann durch das Innere und erklärte mir alles, was ich wissen musste.

„Wir haben derzeit 25 hier wohnende Patienten mit so gut wie allen psychischen Störungen bzw. Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Magersucht und und und. Deswegen bitte ich dich, keinen Menschen aufgrund seines Auftretens oder ähnlichen anzusprechen.
Du wirst die ersten Tage in allen Bereichen Einblicke erhaschen können, um dich hiermit vertraut zu machen. Anschließend wirst du mit mir oder anderen Kollegen zusammen arbeiten und den hier herrschenden Alltag begleiten. Zudem wird verlangt, dass dein Smartphone bis auf die Pausen ausgeschaltet ist. Essen wirst du auch getrennt von den Patienten. Bis hier in soweit verstanden?"

fragte der braunhaarige Mann neben mir. Er war eine Pflegekraft, wie er mir erzählte und er habe hier auch sein FSJ gemacht. Nickend gab ich ihm zu verstehen, das ich dies tat, obwohl in meinem Gehirn ein reines Durcheinander herrschte.

Gott Mutter. Wo hast du mich bloß hingeschickt. Kann man das hier auch abbrechen?

Das war natürlich die Frage, die mir durch den Kopf schoss. In mich hinein seufzend trottete ich dem Pfleger hinterher. Er meinte, ich solle ihm den Tag über, über die Schulter schauen, was ich auch tat.

Bevor er sich aber den Patienten widmete, wollte er mir noch ein Zimmer zeigen. Es war in diesem Fall ein Einzelzimmer, was sehr spärlich eingerichtet war.  Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl und ein eigenes kleines Badezimmer mit Klo, Waschbecken und Dusche. „Spitze Gegenstände wie Rasierklingen, Pinzetten oder Nagelscheren werden am Tag der Einweisung abgeben, einfach, weil wir viele Patienten mit einem selbstverletzten Verhalten hier betreuen. Auch internetfähige Geräte werden abgenommen, damit sie Kontakt zu den anderen halten."

Das klang schrecklich. Wie konnten die hier leben? Was werden bloß die Jungs denken, wenn ich denen hier von erzähle?

Jetzt war es an der Zeit, die ersten Patienten in einer Sitzung kennenzulernen. Wie ich mitbekommen hatte, werden jetzt die Gefühle wie offene Karten auf den Tisch gelegt und sie erzählten von Problemen. In diesem Raum angekommen, war schon ein Stuhlkreis in der Mitte aufgebaut, auf denen vereinzelt Personen, besonders Mädchen, saßen . Plötzlich fühlte ich mich fehl am Platz und wollte am liebsten einfach verschwinden und nicht mehr wiederkommen.

Nachdem der Kreis so gut wie komplett besetzt war, fing es auch schon an.
„Guten Morgen ihr Lieben. Erstmal möchte ich euch jemanden vorstellen. Das ist Ryan und er macht hier sein freiwilliges soziales Jahr." ich nickte kurz in die Gruppe und zwang mir ein kleines Lächeln auf, um nicht unfreundlich zu wirken. Adam, so hieß der Pfleger, schaute ebenfalls kurz in die Runde ehe er an dem leeren Stuhl inne hielt. Ein Mädchen schien seinen fragenden Blick zu verstehen, denn sie antwortete direkt. „Sie hat sich selbst verletzt" murmelte sie und ein seufzen ging durch die Runde.

Ok? Ich hatte keine Ahnung worum es hier ging.

„Ich werde nachher gleich mal nach ihr schauen. Ok also wie geht es euch? Fangen wir bei Lydia an."

Circa eine Stunde später, war diese Sitzung vorbei und ich wusste nicht, wohin mit mir. Das öffnete einen die Augen, wenn man deren Probleme mit den eigenen verglich.
Wie Adam vorhin schon erwähnte, wollten wir jetzt nach einem Mädchen schauen, dass sich wohl selbst verletzt hatte. Kurz sprach er mit einem Mitarbeiter, bevor er wieder auf mich zukam und wir gemeinsam auf einen kleinen Raum zusteuerten. Davor stand ein Mädchen mit gesenkten Kopf und bandagierten Handgelenken. Ihre gerade mal schulterlangen Haare verdeckten ihr Gesicht, aber dennoch konnte ich erkennen, dass sie auf den Boden starrte. Ihre Haut war blass und sie war dünn. Sehr dünn. Krankhaft dünn. „Lili." das Mädchen zuckte bei Adams Stimme leicht zusammen und schaute langsam nach oben. Jetzt konnte ich auch ihr Gesicht erkennen. Mein eigentliches ich würde jetzt sagen, wie heiß sie war und sowas, aber mein derzeitiges ich fragte sich nur, wie es zu ihrem Aussehen kommen konnte. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass sie nicht schön war, aber sie sah extrem krank aus, was ihre eigentliche Schönheit in den Schatten stellte.
„Es tut mir leid." kam es leise über ihre Lippen und ich wusste direkt, dass sie es auf ihre Arme bezog. Adam ging nicht weiter drauf ein und sprach weiter: „Hiernach gehst du direkt zur Tanztherapie und dann gibt es Mittag." Er bat sie in das Zimmer, indem eine Frau, die ungefähr Mitte 40 war, saß. „Lili meine Liebe. Dann wollen wir dich mal wieder wiegen und messen. Und was hast du bloß mit deinen Armen gemacht?" sprudelte es direkt aus ihr raus. Doch Lili schwieg. Ich bemerkte gar nicht, wie Adam ging, bis ihre eisblauen Augen die meine fanden. Schnell senkte sie ihren Blick wieder und schaute auf ihre Schuhspitzen. „Er soll gehen" es war nicht mehr als ein leises flüstern, aber auch dies verstand ich und machte direkt auf Absatz kehrt. Ich atmete einmal tief durch, als ich die Tür hinter mir schloss.
Hatte ich schonmal gesagt, dass ich mich komisch fühlte? Aber diese Lili ging mir jetzt schon nicht mehr aus den Kopf. Diese schüchterne und zurückhaltende Art kannte ich zwar, aber das war nochmal was anderes.

Nach 8 Stunden kam ich wieder zuhause an. In der Küche saß meine Mutter, neben ihr stand ein Glas Wein und sie las in einer Zeitschrift. „Hallo mein Schatz. Wie war der erste Tag?"
„Es war ganz gut" log ich und ging rauf in mein Zimmer. Der Kontakt zu meiner Mutter hatte sich über die Jahre stark verschlechtert. In meinem Reich schmiss ich mich erstmal auf mein Bett und informierte meine Kumpels über meinen Tag. Ben, mein bester Freund, hatte eben gefragt, ob ich mit zu Mikes Houseparty komme. Nach kurzen überlegen, stimmte ich zu.

Ablenkung würde nach diesem Tag gut tun.

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