Kapitel 4 - Ryan

123 6 0
                                    

Ryan

Lili saß schwer atmend auf dem Boden, während Schweißperlen über ihr erhitztes Gesicht rannen. Ein Blick auf das Gerät, dessen Name ich immer noch nicht wusste, verriet mir, dass ihr Puls viel zu hoch war. „Warum machst du das?" fragte ich überfordert, als ich mit einem Glas Wasser bei ihr ankam. Stille war das einzige, was den Raum erfüllte und ihre Augen waren starr auf das Glas in ihrer Hand gerichtet, aus dem sie kein Schluck nahm. „Trink was." versuchte ich es mit einem befehlerischen Unterton und wie beim Frühstück zierte eine Gänsehaut ihre blasse Haut. Dennoch schüttelte sie stur den Kopf und schloss die Augen. Ich hingegen konnte mir dieses Bild von ihr, wie sie vor mir sitzt und halb zerbricht, nicht geben, sodass ich kurzerhand nach dem Glas griff und mit der anderen Hand ihr Kinn sanft in meine Richtung drehte. Erschrocken öffnete sie die Augen und fing stark zu zittern an. „Ich tue dir nichts." versicherte ich ihr so sanft wie möglich. „ich will dir nur helfen"
Ich setzte das Glas an ihre nur noch leicht rosigen und rissigen Lippen an und wartete auf eine Reaktion ihrerseits. Diese kam einen Augenblick später, indem sie mir das Glas wegnahm und ihr Gesicht zur Seite drehte. „Ich brauche deine Hilfe nicht." zischte sie. Dann stand sie auf und umklammerte irgendwelche Gegenstände so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Plötzlich verlor sie den Halt und wäre fast auf den Boden gekracht, hätte ich sie nicht aufgefangen. Wie ein aufgescheuchtes Reh schaute sie mich an und auch das Zittern wurde wieder stärker. „D-Danke" flüstert sie kaum hörbar. Ich führte sie zu ihrem Bett und setze sie darauf ab. Nochmal versuchte ich es, ihr das Glas anzubieten, was sie diesmal sogar annahm.

Innerlicher Schulterklopfer.

Langsam trank sie das Glas aus und lehnte sich an die Wand. Sie wirkte erschöpft, aber ich erlaubte mir dennoch, sie zu mustern. Ihr blasses Gesicht wurde von leichten Sommersprosse verzieht und ihre braunen Haare hingen leicht wellig nach unten. Das war das, was schön war, aber blickte man genau hin, erkannte man die stark sichtbaren Wangenknochen, die nicht wirklich vorhandene Oberweite, die extrem dünnen Arme und Beine, die rausragende Wirbelsäule, sowie die unzähligen blauen Flecke und Wunden.

Wie sie wohl vorher aussah?
Sicherlich nicht schlecht. Gesund halt.

„Kannst du aufhören, mich so anzuschauen?"
Sie schaute an die Decke. „Wie schaue ich dich dann an?" fragte ich nach und bekam einen giftigen Seitenblick von ihr.
Dieses Mädchen hatte auch Stimmungsschwankungen.
Das toppte sogar Ashley und Sandy.

„Bemitleidend und nachdenkend. Denkst du, ich weiß nicht, dass ich krank bin? Deine Blicke machen es nicht besser. Ich will kein Mitleid und schon gar nicht wissen, was in deinem Hirn vorgeht." brummt sie.

„Sorry. Und auch sorry für das vorhin im Speiseraum. Das war unüberlegt und dumm."
Seit wann ich mich für meine Taten entschuldigte, fragte ich mich auch, aber ich wusste, dass es das Richtige war.

„in der Tat."

„Könnten wir nochmal von vorne anfangen? Der Start lief nicht so gut." lachte ich leicht.

Nickend setzte sie sich im Schneidersitz vor mich und schaute mich durch ihre hellen blauen Augen an.

Ich stieß die angestaute Luft aus.
Moment. Wann hab ich den Atem angehalten?!

„Lass uns das so machen. Jeder darf nur eine Frage stellen und der andere muss sie ehrlich beantworten, okay?" Nach kurzem Zögern stimmte sie zu und fing an. „Wie alt bist du?"

„19. Und du?"

„17. was machst du hier?"

„Mein FSJ. Wie lange bist du schon hier?"

„Zu lange. Hast du Geschwister?"

„Ja eine kleine Schwester. Hast du Geschwister?"

stumm schüttelte sie den Kopf und verzerrte kurz schmerzvoll ihr Gesicht.

„Willst du auf dieser Station bleiben oder auch die anderen begutachten?"

„Ich pendle zwischen hier und den anderen. Mal bin ich einen Tag hier, den anderen dann da und so weiter. Warum hast du eben so exzessiv Sport getrieben, obwohl es hier verboten ist?"

„ich habe Angst zuzunehmen."

„Aber du musst."

„Ich weiß."

Wieder wich sie meinem Blick aus und schaute in ihre ineinander gefalteten Hände.

„Wieso das Ganze?" fragte ich ganz vorsichtig. Bei ihr wusste man nie, dass konnte ich seit heute früh schonmal feststellen.
„Frag bitte nicht weiter nach. Vielleicht erzähle ich es dir irgendwann, aber ich muss dir vertrauen können und das kann ich noch nicht."
Verständlich nickend stand ich auf. Die Zeit verging rasend schnell, denn es war schon 20 Uhr und somit war nicht nur mein Feierabend sondern auch das Ende der Besucherzeit.
„Ich möchte dich das nächste Mal unverletzt sehen, okay?"

„Ich habe mich unter Kontrolle."

Nein Lili, hast du nicht. Aber ich glaube dir diese Antwort auf meine Frage.

Help me pleaseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt