Sch....tag

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Nach dem Essen fuhren sie gleich weiter. Sie waren sowieso schon später dran, als Michael Patrick lieb war. Er war etwas ungehalten, als sie an der Location ankamen und der Aufbau auf der Bühne noch nicht fertig war. Auch der Soundcheck klappte nicht richtig, weil es Probleme mit der Akustik gab. Ida ging all den gereizten Männern aus dem Weg und noch während sie Michael Patrick auf der Bühne fluchen hörte, weil es nicht so war, wie er es sich vorstellte, verließ sie das Konzertgelände. Sie bummelte durch die Stadt, sah in die Schaufenster und setzte sich schließlich eine Weile in eine Kirche. In ihr herrschte ein solcher Tumult, dass sie die Ruhe und den Frieden des Gotteshauses brauchen konnte. Sie schloss die Augen und ließ die besondere Atmosphäre, die in vielen Kirchen spürbar war, einfach auf sich wirken. Erst kurz vor dem Konzert betrat sie wieder den Backstagebereich. Der Himmel hatte sich bezogen und es sah so aus, als würde es bald regnen. „Wo warst du?" fuhr Michael Patrick sie an, als er sie sah. „Ich war spazieren." „Du kannst doch nicht einfach weggehen. Du musst mir oder jemandem von der Band Bescheid sagen!" Ida wollte etwas sagen, aber Michael Patrick stürmte zur Bühne.

Ida setzte sich einfach auf den Boden hinter die Bühne. Sie war traurig. Sie fuhr am nächsten Morgen nach München und Michael Patrick würde einige Zeit unterwegs sein, vielleicht mit ein paar Zwischenstopps. Auch wenn sie traurig war, weil dieser Tag alles andere als gut gelaufen war und sie Streit hasste, verblasste das alles gegen die Realität, die sie zu Hause erwartete. Sie musste Oscar beim Packen helfen und auch ihre eigenen Sachen einpacken. Ida war sich nicht mehr sicher, ob es so eine gute Idee war, dass sie bei Michael Patrick einzog. Vielleicht sollte sie sich doch eine eigene Wohnung nehmen. Ida legte den Kopf auf die Knie. Michael Patrick sang gerade Requiem und ihr kamen die Tränen. Der Song war so traurig und sie war so traurig. Irgendwie war ein trauriger Tag. Kurz vor der Pause stand Ida auf und suchte sich einen versteckten Platz. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sah, dass sie geweint hatte. Sie wartete bis das Konzert wieder weiterging, bevor sie sich hinter die Bühne setzte.

Kurz vor Konzertende verließ sie ihren Platz. Sie holte sich etwas zu trinken und ging dann langsam zurück. Sie konnte hören, dass Michael Patrick schimpfte. Noch langsamer ging sie zur Band. Sie wollte eigentlich nicht dahin, wo Streit war, aber es war so ein Gewusel im Backstagebereich, dass sie gerade auch nicht wusste, wo sie hin sollte.

„Ida, wir fahren ins Hotel," sagte Michael Patrick, als er sie sah. Er winkte Harry und die drei eilten zum Auto. Ida tauchte im Auto gleich ab, denn sie mussten durch eine Traube Fans fahren, um das Gelände zu verlassen. Michael Patrick legte eine Jacke über sie, damit man sie nicht sah. Ida kam sich vor, wie in einem falschen Film. Sie lag im Fußraum der Rücksitzbank, zugedeckt von einer Jacke, unsichtbar. „Okay, die Luft ist rein," sagte Harry und Ida setzte sich wieder hin. Im Hotel angekommen gingen sie zur Rezeption. Michael Patrick nahm die Schlüsselkarte entgegen. „Danke." Ida folgte ihm in den Aufzug. „Fuck!" „Was ist los?" „Ich hab die Hälfte vergessen." Er hielt die Aufzugtür auf, die gerade schließen wollte. „Harry!" Ida hielt den Aufzug offen und wartete auf Michael Patrick, der Harry offensichtlich einen Auftrag gab. „Scheißtag heute," schimpfte Michael Patrick vor sich hin. Als er das Hotelzimmer betrat ließ er sich aufs Bett fallen. Ida packte aus, was sie für die eine Nacht brauchte. Sie blieb ein wenig ratlos im Raum stehen. Sie konnte die schlechte Laune von Michael Patrick fast spüren.

Schließlich holte sie ein Buch und ihr Handy aus ihrer Handtasche und legte sich neben ihn aufs Bett. Sie sah auf ihr Handy und seufzte, als sie eine Nachricht ihres Bruders las. „Ida, bitte, ich kann heute keine weitere Szene ertragen." Michael Patrick setzte sich auf und sah sie genervt an. „Ich mache dir keine Szene. Keine Sorge, morgen früh bist du mich los. Ich kann auch jetzt gleich aufbrechen, wenn dir das lieber ist." „Nein, jetzt übertreib nicht. Heute war ein Scheißtag. Ich streite mich nicht gerne und ich bin echt müde." „Ich auch. Tut mir leid, dass ich geseufzt habe, das wird nicht mehr vorkommen." Ida öffnete ihr Buch und hielt es sich demonstrativ vor das Gesicht. Michael Patrick wühlte in seinem Koffer herum und schien etwas zu suchen. Ida ignorierte sein Gemurmel und tat so, als würde sie lesen. Hinter dem Buch konnte er wenigstens ihre Tränen nicht sehen.

Eine Weile später kam Michael Patrick frisch geduscht aus dem Bad. „Ach Ida, sorry, ich habe das nicht so gemeint. Du sollst nicht weinen." „Ich weine nicht wegen dir." Ida drehte sich weg, damit er ihr Gesicht nicht sah. Aber Michael Patrick kniete sich vor das Bett, ganz nah vor ihr Gesicht. „Unser erster Streit ist nicht so gut gelaufen, stimmt's? Das müssen wir wohl noch üben." „Nein, ich will streiten nicht üben. Ich hasse Streit." „Dann hör bitte auf zu weinen." „Ich kann nicht. Oscar hat heute den Notarvertrag unterschrieben. Das Haus ist verkauft." Nun war es absolut endgültig. Ida hatte es nicht wahrhaben wollen, dass Oscar das Haus in dem sie aufgewachsen waren, tatsächlich verkaufte. „Baby, wenn du das nicht möchtest, warum hast du nichts gesagt? Ich habe dir doch gesagt, dass wir es kaufen können, wenn du nicht möchtest, dass es jemand anderes hat." „Nein, es ist ja schon richtig so, aber trotzdem. Meine ganze Kindheit ist mit dem Haus verbunden, so viele Erinnerungen, so viele schöne Momente, aber eben auch die Zeit der Trauer, des Gesundwerdens und ...." Michael Patrick nahm sie in den Arm. Ida hatte sich geweigert bei den Besichtigungsterminen anwesend zu sein. Sie wollte nicht dabei sein, wenn Wildfremde durch das Haus gingen und irgendwelche Kommentare dazu abgaben. Sie hatte sich einfach davor gedrückt. Sie wusste, dass es Oscar auch nicht leicht gefallen war und ihm gegenüber hatte sie immer versucht sich stark zu zeigen. Aber nun war es Schwarz auf Weiß, dass ihr Elternhaus jemand anderem gehören würde. „Lass uns schlafen gehen. Morgen ist bestimmt ein besserer Tag!" Michael Patrick legte sich hin und zog Ida in seine Arme. Sie fühlte sich gleich besser. Auch wenn dieser Tag wirklich blöd gewesen war und sie nicht nur einmal Panik gehabt hatte, dass ihre Beziehung zu Michael Patrick wegen eines blöden Spruchs von ihr enden könnte, so wusste sie jetzt doch wieder, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Er streichelte ihr über die Haare und Ida kuschelte sich an ihn. Sie hatte doch Glück, dass es ihn gab, auch wenn er auch nur ein Mann war, mit all den negativen Aspekten die zu dieser Spezies manchmal gehörte. Diese Gefühlsachterbahn hatte sie ganz schön erschöpft. Es tat so gut, sich in diesen starken Armen geborgen fühlen zu können. Trotz allem war Michael Patrick der Mann, den sie liebte. Auch er durfte mal einen schlechten Tag haben und sie nahm sich vor, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen und nicht so über zu reagieren, wenn er wieder einmal etwas sagen sollte, was ihr nicht passte. Aber sie würde sich auch nicht alles von ihm gefallen lassen. Es war ihr Ernst gewesen, als sie gesagt hatte, dass er ihr auf Augenhöhe begegnen sollte. Ida war trotz allem viel zu stolz, um sich für einen Mann zu verbiegen oder sogar aufzugeben.

Das Leben ist zu kurz für Irgendwann!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt