Neun - Teil 2

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Eine der Sachen, die ich nie verstehen werde, ist, warum es Dinge gibt, die einem erst bewusst werden, wenn man von ihnen Abschied nimmt. Die mit zunehmender Distanz an Bedeutung zu gewinnen scheinen. Ein ganz seltsames Gefühl, das ich bisher noch nicht kannte und das ich nicht einzuordnen weiß, durchströmt mich, als ich am Rand des Wagens hocke und meiner Mutter und Dena dabei zusehe, wie sie mir nachwinken und dabei langsam aber sicher kleiner werden. Irgendwann sind sie kaum noch zu erkennen, um dann plötzlich ganz hinter einer Hü­gelkuppe zu verschwinden. In diesem Moment erfahre ich zum ersten Mal, was es heißt wirklich und vollkommen alleine zu sein. Nicht körperlich alleine natürlich, denn ich reise ja mit anderen Menschen. Alleine in meinem Kopf. Und ich ertappe mich dabei, dass ich diese neue Erfahrung als angenehm empfinde. Mich zu verabschieden war verdammt schwer und sobald sich meine Reisegruppe in Bewegung gesetzt hatte, fielen mir plötzlich noch tausend Dinge ein, die ich hätte sagen sollen. Doch mit einem Mal bin da nur noch ich, mit all den Möglichkeiten und Entscheidungen, die auf mich warten und die nur mir gehören. Die Welt, die mir stets so klein und gewissermaßen kaum existent erschienen ist, scheint mit einem Mal mit einer solchen Anziehungskraft versehen, dass ich ein wenig überwältigt bin von dem Drang möglichst bald möglichst alles zu sehen, was sie zu bieten hat. Aber halt, stopp. Ich bin aufgebrochen, das bedeutet viel in meiner eigenen kleinen Welt, das ja. Doch vorerst bin ich lediglich auf dem Weg nach Galarad, der Großen Stadt, um dort zu lernen und herauszufinden, wer ich bin. Das ist mehr, als ich jemals gewagt habe mir auszumalen und ich sollte wahrscheinlich versuchen, mich gänzlich darauf zu konzentrieren in dieser unglaublichen Unbekanntheit nicht unterzugehen.

Nach einer ziemlich kurzen Strecke realisiere ich plötzlich, dass wir vor nicht allzu langer Zeit den Punkt erreicht haben, ab dem jeder Schritt Neuland für mich bedeutet und auch wenn sich natürlich landschaftlich noch nichts geändert hat, sauge ich jedes Detail begierig in mich auf. Vielleicht gibt es eine Zeit, meiner Familie und meiner Heimat hinterher zu trauern, aber die ist nicht jetzt. Nicht in diesem Moment und zu diesem Zeitpunkt meiner Reise. Mit einem tiefen Atemzug fülle ich meine Lungen mit der frischen Morgenluft und fühle mich seltsam belebt, während ich mir eine bequemere Position zwischen den Kisten verschiedener Größen suche. Dabei drehe ich mich so, dass mein Blick den Weg vor uns trifft, anstelle von dem, was hinter uns zurückbleibt.

Die Gruppe, mit der ich reise, besteht aus nur wenigen Leuten. Außer mir befindet sich in dem Warenkarren, welcher von einem kräftigen Kaltblüter gezogen wird, nur noch Bernise. Sie ist eine alte Frau mit einem sehr runzeligen, gebräunten Gesicht, das allerdings fast ständig ein Lächeln trägt, was ihre vielen Falten nur noch mehr zur Geltung bringt. Ich habe sie gleich ins Herz geschlossen. Bernise betreibt einen kleinen Marktstand, in dem sie Kräuter und andere Pflanzen verkauft. Viel weiß ich noch nicht über sie, eigentlich nur, dass sie wohl schon ihr ganzes Leben durch Mathaira reist und sich ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf ihrer Arzneien und Aromen verdient. Ein solches Leben muss ungeheuer interessant sein und ich nehme mir vor sie bald näher darüber auszufragen. Dass Bernise ein Teil dieser Reisegruppe ist, liegt daran, dass sie und Haymon sich seit Jahren immer wieder auf verschiedenen Märkten getroffen und irgendwann eine Vereinbarung ausgemacht haben, die beinhaltet, dass Haymon Bernise gelegentlich mitnimmt, wenn ihre geplanten Routen übereinstimmen. Ich frage mich, ob Haymon wohl jemand ist, der eine Gegenleistung für einen solchen Gefallen erwartet und was diese im Falle von Bernise wohl sein könnte.

Haymon, der unsere kleine Prozession zu Pferde anführt, wird begleitet von Iakovo, einem dünnen Mann, dessen geringe Körpergröße neben Haymon besonders auffällt und der mich vom ersten Moment an an ein Kaninchen erinnert hat. Ich bin mir gar nicht mal sicher, woher dieser Eindruck kommt. Iakovo jedenfalls gehört neben Eerosah auch zu Haymons Team und ist neben seiner Verkaufstätigkeit hauptsächlich dafür verantwortlich, an den verschiedenen Orten, an denen der Marktstand aufschlägt, nach interessanten Dingen Ausschau zu halten, die ihren Weg in das eigene Repertoire finden sollen. Haymon scheint eine hohe Meinung von dem kleinen Mann zu haben, also vermute ich, dass er vielleicht in Sachen Verhandlung genauso unschlagbar ist, wie mein Vater Schrägstrich Ziehvater es immer war. Ich weiß immer noch nicht, wie ich ihn nennen soll.

Schlammbuch - Aufbruch der Elemente [überarbeitet, abgeschlossen]Where stories live. Discover now