Vierundfünfzig - 1

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-   Jumas   -


Die Bilder, die ich in meiner Vision gesehen habe, waren genauso verschwommen, wie das, was ich nun durch die Dunstschwaden von der Bergkette erkennen kann. Und da sind noch andere Bilder in meinem Kopf, deren Inhalt ich bis heute nicht vollends entschlüsselt habe – oder doch? Wie auch immer – während ich mit den Augen die Kanten der Berge nachfahre, fängt mein Herz unweigerlich an, in meiner Brust verrückt zu spielen.

Feuer und Glut.

Das hier ist kein Ort für jemanden, der in den Sumpflanden im Nordwesten Mathairas aufgewachsen ist und als Kind gelernt hat, das Leben aus all den Gewässern und Tümpeln zu schöpfen, die selbst um die große Stadt Jyx zahlreich zu finden sind.

Trockene Hitze.

Schon der Gedanke trocknet meine Kehle aus und ich zwinge mich, den Blick von Fenris' Grab abzuwenden und stattdessen auf Lael zu richten, der sich gerade schweren Herzens von Eila verabschiedet. Der Anblick und der Gedanke, was es Eila bedeutet, ihren Onkel so unverhofft getroffen zu haben, sorgen letztendlich dafür, dass sich eine Ruhe in mir ausbreitet, die ich nur zu gerne willkommen heiße.

Lael verabschiedet jetzt auch Meany mit einer kurzen, aber herzlichen Umarmung.

Meany. Ich atme mehrmals konzentriert ein und aus, um meine Gedanken in der jetzigen Geschwindigkeit zu halten. Sie hat seit unserem Aufbruch aus dem Dorf der Wassermenschen kaum mit mir gesprochen. Meany, die so zart ist und deren Lachen klingt, wie kleine Glöckchen. Ihr wehzutun, das schmerzt mich mehr, als sie ahnen kann.

Gedankenverloren streiche ich mit dem Finger über den oberen Teil der Narbe über meinem Schlüsselbein. Sie stammt von einer Sumpfkatze, die mich einmal in einem unachtsamen Moment erwischt hat. Damals hatte ich Angst, große Angst, aber weder in dem Moment, da ich Auge in Auge mit dem großen, schlanken Raubtier stand, noch später in meinem Leben, habe ich mich so feige gefühlt, wie jetzt. Meany würde mir zuhören, ganz sicher. Aber dann würde sie mir zureden und ich weiß nicht, was dann passieren würde.

Mit meinem ganzen Herzen wünsche ich, dass sie eines Tages verstehen wird...

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Lael plötzlich vor mir steht, um sich auch von mir zu verabschieden. Ich strecke ihm die Hand hin, die er ergreift, während er mir fest in die Augen sieht.

„Den anderen habe ich das auch schon gesagt, aber..." Er ruckt seinen Kopf in die Richtung seiner Nichte. „Pass auf sie auf, ja?"

Ich erwidere sein Lächeln aufrichtig. „Mit allem, was ich habe." Da kann er sich sicher sein.

„Ihr seid alle immer herzlich bei uns willkommen! Möge die Kraft des Wassers nie aufhören in dir zu fließen."

Ich versuche mich an den Wortlaut zu erinnern, der auf diese Abschiedsfloskel folgt. „Und möge der Strom deines Lebens dich stets in die richtige Richtung führen."

Als wir die Eingangshöhle betreten, die Lael uns gewiesen hat, verstehe ich, warum die Legende um diesen Ort vo einem Lebewesen handelt. Der Stein um uns herum scheint zu atmen. Wenige Meter vor uns führt ein einzelner Gang aus der Höhle heraus in den Berg, aus dem ein rötliches Glimmen kommt. Und... ich habe mich getäuscht. Nicht nur die Wände atmen, sondern der ganze Berg. Seltsame Laute, beinahe wie langezogene Seufzer streichen an dem Gestein entlang.

Wir wechseln untereinander rasche Blicke, wie um uns gegenseitig Mut zuzusprechen. Dann macht Fae den ersten Schritt und wir folgen ihm in dichtem Abstand.

Bald öffnet sich der Gang in einen riesigen Felsendom und der Weg, den wir nehmen sollen, drückt sich so eng an den Stein zu unserer Rechten, dass wir von nun an nur noch hintereinander gehen können. Links von uns – so nah – endet der Weg im Nichts und gibt den Blick frei auf eine glimmende Lavalandschaft weit unter uns, aus der nur vereinzelt spitze Steinsäulen ragen. Ganz so, wie Lael es beschrieben hat. Was er allerdings nicht erwähnt hat, ist die Luft, die so trocken und heiß ist, dass man sie nur mit Mühe atmen kann. Schon nach kurzer Zeit habe ich das Gefühl, innerlich zu schmelzen. Denken wird so schwierig, dass ich meine Aufmerksamkeit bloß noch abwechselnd auf den Boden und auf Eila richte, die vor mir geht. Hinter mit höre ich Lisha schwer atmen.

Eila bleibt plötzlich stehen, doch bevor ich in sie hineinlaufen kann, geht sie langsam weiter und entschuldigt sich hastig. Ihre Schritte wirken jetzt unsicher, während sie immer wieder vorsichtig über den Rand in die Tiefe schaut. Rumin, der vor ihr geht, scheint ihre Unruhe ebenfalls zu bemerken, denn er dreht seinen Kopf zur Seite und raunt: „Was ist los?"

„Nichts", erwidert Eila leise. Keiner traut sich hier laut zu sprechen. „Ich dachte, ich hätte etwas gesehen." Sie schüttelt leicht den Kopf.

„Wahrscheinlich hat das Licht dir einen Streich gespielt", vermutet Rumin, doch auch er lugt mehrmals über die Kante.

Danach schweigen wir, während die Zeit ebenso träge dahinfließt, wie die Lava.

Mit der Zunge fahre ich mir über meine trockenen Lippen und merke, wie sich in mir die Wachsamkeit regt, die ich mir in den Jahren meiner Kindheit in den Sumpflanden antrainiert habe. Mein Herz schlägt genau den Takt, der mir die Möglichkeit gibt, fließend zwischen Jäger und Gejagtem zu wechseln.

Ich spüre es, bevor irgendeiner meiner anderen Sinne etwas wahrnimmt. Spüre es wie einen elektrischen Impuls auf meiner Haut, als flaues Gefühl in meinen Armen. Dann erreicht mich der heiße Luftzug, der dicht über die Kante zum Abgrund weht – ganz kurz bevor ich sehen kann, wie etwas Schwarzes von dort heraufschießt, sich um Rumins Knöchel windet und daran zieht. All das geht so schnell, dass kaum Zeit für einen vollendeten Gedanken bleibt. Und so ist es nicht mehr als eine Ahnung, ein stechendes Gefühl irgendwo in meinem tiefsten Inneren, dass mich reagieren lässt. Und zwar den Bruchteil eines Augenblicks später als Eila. Als sie sieht, dass etwas droht, Rumin in die Tiefe zu ziehen, wirft sie sich instinktiv nach vorne und reißt ihn in Richtung Felswand. Was auch immer sich um seinen Fuß gewickelt hat, verliert den Halt – und Eila das Gleichgewicht.

Manchmal vergeht die Zeit, aber die Momente hören auf zu zählen. Sie entgleiten einem und dass die Sekunden vergehen, hat plötzlich keine Bedeutung mehr. Ich frage mich noch, ob ich mich wundern müsste, dass ich diese gesamte in sich verschobene Situation so detailreich wahrnehme, dann verliert auch das Fragen seinen Sinn und ich sehe die Hände, die genauso gut jemand anderem gehören könnten, vorschnellen und an Eilas Unterarm zerren. Einen Herzschlag lang (oder einen Bruchteil davon) scheinen wir eine schwebende Einheit zu bilden, eine Linie zwischen Halt und Abgrund und dann, ganz plötzlich, spüre ich den Ruck und das Gleichgewicht dieser Einheit verschiebt sich.

Ich werde schwerelos oder zumindest fühlt es sich so an.

Einzig mein Blick klammert sich an einen bleichen Punkt, während ich falle. Die Ahnung eines Gesichts.

Ein letzter, tröstender Gedanke lässt mich hoffen, dass es Meany ist. Eine Schneeflocke inmitten der Flammen.

Gibt auf dich Acht.

Und vergib mir.

Schlammbuch - Aufbruch der Elemente [überarbeitet, abgeschlossen]Where stories live. Discover now