{7} Zu nah. Zu fern.

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Nochmals danke, Jungchen, für deine Mithilfe.

Das Jungchen sitzt in seinem weißen Sessel und beobachtet das Mädchen, welches zusammen gekauert in der Mitte der weißen Couch Platz genommen hatte. Während sie ihre Tasse Tee mit beiden Händen umklammert hält, steht seine Tasse unberührt auf dem Tisch. Während sie in der Couch zu versinken scheint, sitzt er am Rand seines Sessels mit den Ellbogen auf seinen Knien abgestützt, den Blick nicht vom Mädchen lösend.

Er fragt schonungslos und direkt: „Was ist los?“

Ihm entgeht nicht, wie sie seinem Blick ausweicht. Sie weiß, sie kann ihm nichts verheimlichen. Nichts vor ihm verbergen. Statt einer Antwort nimmt sie ein Schluck ihres Tees.

„Hast du nicht mal erzählt, du hättest ein Klavier?“, fragt sie ohne ihn dabei anzusehen. Seine vorhin gestellte Frage ignorierend.

„Ja, ich habe ein Klavier.“

„Darf ich darauf spielen?“

„Jetzt?“

Sie nickt.

Er erhebt sich und hält ihr seine Hand hin um ihr aufzuhelfen (diese Hilfe nahm sie dankbar mit einem Lächeln an) und führt sie anschließend ins Haus hinein und die Treppen hoch. Sie war bisher noch nie wirklich im Haus drinnen gewesen, geschweige denn irgendwo anders als im Erdgeschoss.

Sie sind im zweiten, obersten Stockwerk. Sobald sie die letzte Stufe erreicht haben, erstreckt sich ein großer Raum, wenn nicht sogar schon ein kleiner Saal, vor ihnen. Sie haben einen direkten Blick auf die hohen Fenster am Ende des Raumes, welche vom Boden fast bis zur Decke reichen. Diese sind die einzige Quelle von Tageslicht in diesen vier Wänden. Diese Quelle wird von einem weißen, durchschaubaren Vorhang behindert, so dass das Licht der untergehenden Sonne sehr weich in den Saal fällt. Sie lassen genug Licht herein, das der Raum nicht zu hell, aber auch nicht zu dunkel wirkt. Alles ist angenehm, es belastet die Augen nicht. Man könnte hier fast schlafen, würde aber trotzdem keinen Schlaf finden. Umrahmt ist das ganze nochmals mit Vorhängen, die im Gegensatz zu den zugezogenen, leichten Vorhängen, sehr schwer und undurchschaubar sind. Die Wände links und rechts beschmückt mit deckenhohen Bücherregalen. Alle randvoll mit Lektüren aus allenmöglichen Themenbereichen gefüllt. Einige davon älter, andere aktueller. 

An der linken Zimmerwand, zwischen den Regalen, steht ein Kamin, davor ein Glastisch mit zwei Sesseln und je eine Stehlampe. Diese Möbelstücke stehen auf einen in dunklen Rottönen gemusterten Teppich. Und mittendrin das Klavier als festen Bestandteil und Mittelpunkt des Raums. Um genau zu sein ein alter Flügel.

Das Mädchen geht paar Schritte in den Raum bis sie sich zu Jungchen umdreht. Sie will was sagen, findet aber nicht die richtigen Worte und bemerkt, dass auch die Wand hinter ihm verziert ist. Eingerahmte und nicht gerahmte Fotografien, Urkunden und Zeichnungen fanden ihren Platz an dieser Wand. Sie wagt einen neuen Versuch Jungchen anzusprechen, aber sie ist sprachlos. Sie räuspert erstmal bis sie schließlich fragt: „Und wir chillen immer in deinem Wintergarten?“

Jungchen zuckt nur gleichgültig mit den Schultern. Also dreht sich das Mädchen dem Instrument zu.

Wie sie auf das Klavier zugeht, streckt sie unbewusst ihre Hand danach. Ganz sanft, kaum merkbar. Als würde sie sich nach dieser Berührung sehnen. Sie streicht – ja, schon zärtlich über das dunkle Holz. Es staubt und sie setzt ihre Kapuze ab, die sie die ganze Zeit auch im Haus aufgesetzt hatte.

Sie zieht den Stuhl heran, und nimmt ganz sacht Platz. Der rechte Fuß auf dem rechten Pedal, der Linke auf Spitzen am Stuhlbein angelehnt. Dann öffnet sie den Deckel und begutachtet erstmal nur die 88 schwarz-weißen Tasten, bevor sie behutsam ihre Finger auf diese legt. Doch noch spielt sie keine Melodie. Sie spielt flink und schnell eine chromatische Tonleiter von der obersten Taste bis zum letzten, tiefsten Ton runter. Sie testet den Klang des Flügels und ist sichtlich zufrieden.

Nun krempelt sie sich beide Ärmel hoch, streicht sich durch die Haare, richtet sich auf und beginnt.

Als der letzte Ton des Stückes von den schweren Vorhängen aufgesogen worden ist, verschwindet ihre Körperspannung und sie sitzt jetzt im Schneidersitz zum Jungchen gedreht.

„Es ist so.“ Sie holt tief Luft. „Wir sind in der Maximum-Phase unserer Freundschaft angelangt. Entweder ist das hier der Höhepunkt oder er kommt noch. Entweder gehen wir einen Schritt weiter. Steigern unsere Freundschaft. Oder aber, das war’s und unsere Wege trennen sich langsam. Vor beiden Optionen habe ich Angst, Jungchen. Wir sind in der Phase der Freundschaft in der ich mich entscheide. Weiter oder Distanz. Mit der Distanz kommt man nämlich zu der Phase vor dem Maximum. Verstehst du? Meistens entscheide ich mich für die Distanz. Ich riskiere nicht. Ich bin zufrieden mit dem wie es ist. Aber das mit uns… Ich kann mich nicht entscheiden. Ich bin… unzufrieden. Irgendwie unzufrieden mit unserer Freundschaft. Ich weiß nicht… Irgendetwas wird sich ändern. Ich fühle es.“

Sie schließt den Deckel der Klaviatur.

Körperlich zu fern. Seelisch zu nah. Mir zu nah.

JungchenWhere stories live. Discover now