{10} Beim Mädchen zuhause. [2]

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Das Mädchen öffnete ihre Tür und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Es stand ein Paar mit Schlamm bedeckten Schuhen dort, wo sonst ihre Schuhe standen und ein Pullover am Kleiderhaken tropfte fröhlich eine kleine Wasserpfütze auf die Dielen.

Vorsichtig ging sie die paar Schritte in ihr vertrautes Zuhause. Schnell suchte sie mit ihren Augen das Zimmer nach dem Unbekannten ab, bis sie am Sessel an etwas Bekanntem, aber Deplatzierten hängen blieb. Sie atmete scharf ein. Jungchen saß dort und schlief friedlich. Es prasselte beruhigend auf das Dach und gegen die Fenster.

Das Mädchen bekam Panik. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Nicht genügend Sauerstoff vorhanden. Ihre Gedanken liefen allesamt Amok. Wie ist er hierher gekommen?! Wie konnte er sie finden?! Sie fühlte sich ihrer Privatspähre verletzt. Ihrem Zufluchtsort verraten. Ihr Geheimnis berraubt. Schnell weg. Flüchten.

Sie drehte um, stolperte über seine Schuhe, riss die Tür auf und floh.

Jungchen schreckte hoch, aufgeweckt vom Gepolter und dem eisigen Windzug. Er sprang auf, wusste, dass es das Mädchen war. Musste sie einholen. Musste sie erreichen. Musste sie zur Rede stellen. Gott verdammt, wieso lief sie weg?! Keine Zeit zum Schuhe anziehen. Füße mit schwarzen Socken liefen hinaus ins Freie. Das Mädchen noch nicht weit gekommen.

„Hey! Warte doch!“, schrie er so laut er konnte und sie blieb tatsächlich stehen und wandte sich zu ihm.

„Was machst du hier?!“, schellte sie ihn. Was machte er hier? Hier bei ihr? Ihrer Welt, in der sie niemanden Einlass gewährte und auch nicht vor hatte jemals zu ändern?

Aber… Sie hatte ihn hierher geführt. Sie hatte ihm Einlass gewährt. Sie hatte ihn regelrecht eingeladen Teil ihrer Welt zu sein. Ja, all dies hatte sie getan.

Ein paar Schritte vor ihr blieb er stehen.

„Was ist los? Ich verstehe nicht…“, gab Jungchen von sich. „Wieso…?“ Er wollte auf sie zu gehen, als sie schrie: „KOMM’ JA NICHT NÄHER!“

So wie ihr Gesicht sich verzog, nahm er an, dass sie weinte. Aber durch den Regen und das Tosen des Sturmes konnte er sich nicht sicher sein.

„LASS MICH IN RUHE!“, schmetterte sie ihm brüchig entgegen.

Jungchen verstand die Welt nicht. Was sollte der Bullshit?! Sie entscheidet einfach, dass sie in seinem Leben auftaucht, da bleibt und jetzt will sie ihn aus ihrem Leben streichen? Aus dem Nichts kündigt sie dieser… dieser Symbiose?

„Sag’ doch was los ist! Was habe ich gemacht? Wenn…“ Sie ließ ihn nicht ausreden.

„NICHTS! Du hast nichts gemacht! Aber… du bist überall! Scheiße, ey! Immer da. Kein einziger fucking Tag vergeht, an dem ich nicht an dich denke. Keine einzige Sache tue ich ohne an dich denken zu müssen. Ich… ich halte das nicht aus! Du bist überall… Und jetzt bist du sogar bei mir zuhause…!“

Selbstsicher ging sie auf ihn zu. Er erwartete, dass sie ihn schlagen würde, doch stattdessen beugte sie sich zu ihm und hauchte ihm ein „Sorry.“ ins Ohr.

Rückwärts, ohne den Augenkontakt abzubrechen, ging sie von ihm weg. Nun war sich Jungchen sicher, dass sie weinte.

„Bitte… lass mich in Ruhe. Bitte. Jungchen.“, bettelte sie ihn geradezu an.

Es liegt in ihrer Natur. Das ist, was sie tut. Abbrechen. Ganz unvermittelt, ganz plötzlich. Es ist ihr Instinkt und diesem folgt sie. Nicht sofort. Nicht immer. Erst, wenn sie sich ganz sicher ist. Wenn es zum Besten der anderen Person ist. Wenn es zu ihrem Besten ist. Wenn die Entscheidung für alle Seiten besser ist.

Sie fühlt immer. Immer mehr als andere. Immer zu viel als andere. So viel, dass sie nicht mehr zu fühlen wagt.

„Verzeih mir, Jungchen. Du wirst jemanden finden, der besser ist als ich.“, flüsterte sie und ihre Stimme klang so fest und sicher, dafür, dass die Tränen nicht aufhören wollten zu fließen.

Ein verzweifeltes „Vielleicht will ich aber niemand besseren“ verließ seinen Mund.

„Es tut mir Leid. So Leid… Leb wohl, Jungchen.“ Sie entfernte sich langsam noch ein paar Schritte, bis sie sich unerwartet umdrehte und lief. Weg lief. Vor ihm weg lief.

Und der Wind änderte seine Richtung, wehte nun gegen ihn, als würde sogar er Jungchen vom Mädchen fortreißen wollen.

Und dieser fragte sich: Ist das, das Ende?

Sind die schlimmsten Abschiede nicht die, die nie stattgefunden haben? Die, bei denen die Personen einfach aufhören, miteinander zu reden? Nur das Schweigen bleibt.

Und das will sie nicht. Sie will nicht einfach so in Vergessenheit geraten. Sie wollte nicht, dass diese Freundschaft einfach so verblasst; aufhört, ohne eine Chance sich von der geliebten Person zu verabschieden.

Ich vermisse dich.

JungchenWhere stories live. Discover now