[Zwei] - Montags-Frust

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Auf dem Weg zu BNS breche ich ein paar Verkehrsregeln und hoffe, dass nirgendwo die Polizei in irgendeiner Ecke lauert.
Es ist bereits nach neun Uhr. Jolenes Angestellte warten also schon auf ihre Anweisungen für die Woche. Dass ich nun doch so spät dran bin, liegt an ungeplanten Vorkommnissen.
Beginnend damit, schon nicht pünktlich aus unserem Büro gekommen zu sein, weil Naddy der Meinung war, es noch heute unbedingt wissen zu müssen, ob ich mich schon damit angefreundet habe, das Wochenende mit Jolenes Eltern zu verbringen.
Der Gedanke daran macht mich ultranervös, denn ihre Eltern besuchen nicht uns, sondern wir fliegen zu ihnen nach Virginia.
Mir graut es davor, wenn ich Jolene den Beschreibungen ihres Vaters glauben darf. Mit der neurotischen und pedantischen Art ihrer Mutter käme ich wohl noch klar, denn freundlich ist sie ja trotzdem. Aber laut Aussage muss der Vater wohl ein ganz anderes Kaliber sein.
Allein die Tatsache, dass Jolene nicht von ihm als ihren Vater spricht, sondern von Admiral, und sowieso relativ emotionslos dabei ist, sagt mir schon, wie gespalten dieses Verhältnis ist. Sehr ungewöhnlich; sind die Töchter für ihre Väter doch gerne die Prinzessin.
Aber dann denke ich an meinen Vater. Wirklich königlich hat er mich auch nicht behandelt, aber er hat mir zumindest hin und wieder das Gefühl gegeben, mich zu lieben.
Je mehr ich daran denke, umso stärker wird meine Nervosität. Vermutlich kann man das Herzrasen auch schon als leichten Anflug von Panik bezeichnen.
Jolene redet nicht viel von ihrem Vater, aber wenn, sind das keine netten Worte, die sie über ihn zu sagen hat. Und das, was sie mir seit Tagen warnend sagt, macht es nicht besser.
»Egal, was er sagt, nimm es bitte nicht persönlich. Die Welt in seinem Kopf ist einfach etwas unförmig.«
Kurz gesagt: Er ist nicht nett und wird sich auch mir gegenüber nicht höflich verhalten.
Ich werde also vermutlich das ganze Wochenende an Jolene kleben wie ein hungriger Straßenhund und ihr keinen Meter von der Seite weichen; mich nur dann bewegen und atmen, wenn sie es tut.
Jolenes Versuche, dieses Wochenende irgendwie abzusagen oder zu verschieben, weil sie selbst keine Lust darauf hat, drei Tage mit ihren Eltern unter einem Dach zu leben und sich an deren Regeln zu halten, hilft mir nicht wirklich dabei, meine leichte Panik zu besiegen.
Bis Anfang dieses Jahres war der Admiral in Kalifornien stationiert, verbrachte die Zeit aber im Einsatz in Afghanistan. Um nicht ganz so alleine zu sein, hat sich Milly eine Wohnung in Miami genommen, um näher bei Tochter und Enkel zu leben.
Als der Admiral aus dem Einsatz zurückkam, hat er eine Stelle im Pentagon angenommen. Nun leben ihre Eltern also dort; in Virginia, in den Aurora Highlands. Und sie möchten ihrer Tochter unbedingt ihr neues Heim zeigen. Dass ihre Mutter in einem Monat Geburtstag hat, wir den Besuch auf diese Zeit hätten legen können, war für den Admiral indiskutabel. Er will Tochter und Enkel jetzt bei sich haben. Viel mehr eigentlich nur den Enkel. Aber Chester ist mit seinen knapp zwei Jahren nun mal noch nicht in der Lage, alleine nach Virginia zu reisen.

Chester; ein Seufzen entkommt mir. Dieser muss heute wohl die Laune seiner Mutter übernommen haben. Er war plötzlich sehr quengelig und wollte einfach nicht im Kindergarten bleiben; hat sich mit all seiner Kraft an mir festgehalten und mich einfach nicht loslassen wollen. Ich war gerade kurz davor, den Kampf aufzugeben und ihn wieder mitzunehmen, als er dann ein bestimmtes Spielzeug entdeckte. Hoffend, er würde sich darauf dann fokussieren, wollte ich mich aus dem Staub machen, aber Chester hatte ganz andere Pläne. Er wollte es mir zeigen, präsentieren und ich sollte mit ihm spielen. Also habe ich mich auf eins der kleinen Stühlchen gesetzt und ihm letztlich beim Spielen nur zugeguckt.
Immer, wenn ich dachte, er ist jetzt abgelenkt, wollte ich gehen, aber seine kleine Hand griff dann nach mir und große, runde Kulleraugen sahen mich an; drohten, in Fluten auszubrechen, die Lippen nach vorne geschoben und zitternd. So blieb ich also bei ihm, bis sich dann zwei andere Kinder dazu gesellt haben und ich endlich vergessen schien. Und doch war die Verabschiedung dann herzlichst. Er ließ mich gehen, aber nicht ohne mich fest zu umarmen und meinen mütterlichen Kuss überschwänglich zu erwidern.
Es muss einfach daran liegen, dass heute Montag ist. Montage sind scheiße. Sie fangen scheiße an, bleiben scheiße, und enden auch so.

Als ich dann schließlich das Bürogebäude von BNS betrete, stutze ich. Sie alle sehen beschäftigt aus. Keiner rennt orientierungslos durch die Räume, der Gemeinschaftsraum ist ebenfalls leer und auch der Kicker und die Spielkonsole sind unbenutzt.
Hier stinkt's gewaltig nach 'irgendwas stimmt hier nicht.' Denn eigentlich hatte ich genau das erwartet. Wartende Angestellte. Kaffeetrinkend, rumlungernd, spielend.
Und doch wird meine Anwesenheit bemerkt und mit freundlichen, als auch grinsenden Gesichtern begrüßt. Aber keiner macht Anstalten, für das wöchentliche Meeting ins Besprechungszimmer zu gehen, für das ich heute nämlich hier bin.
Weil ich bereits ahne, warum das so ist, werfe ich einen Blick über Brandons Schulter und finde genau das, was ich vermutet habe.
Ein Gruppenchat mit Jolene, die das Meeting auf diese Weise abhält. Ich denke, es ist vollkommen in Ordnung, wenn ich deswegen etwas angepisst bin. Denn immerhin habe ich mir ein halbes Bein ausgerissen, um hier nicht zu spät zu kommen und das für sie zu erledigen. Schließlich war das so abgemacht.
Entsprechend zücke ich mein Handy. Weil rumdiskutieren mit ihr zu nichts führen würde, packe ich sie einfach bei ihrem Stolz.

Cait (09:23): »Wenn du nicht sofort den Laptop ausmachst und dich auskurierst, lasse ich hier jeden wissen, dass ich dich Schnuffelbärchen nenne!«
Jolene (09:23): »Du nennst mich doch gar nicht Schnuffelbärchen.«
Cait (09:23): »Das wissen die ja nicht.«

Umgehend ertönt ein kleines Signal und ich sehe, dass Jolene den Chat verlassen- und sich ihr Status in Offline geändert hat. Im ebenfalls selben Moment heben sich sämtliche Köpfe, hinter den Monitoren hervor und irritierte Blicke werden sich zugeworfen, bis schließlich alle auf mich gerichtet sind.
Kurz seufze ich, ehe ich mit einer Geste bedeute, sich allesamt ins Besprechungszimmer begeben. Eines muss ich Jolene ja lassen: Sie hat wirklich ein gutes Händchen für ihre Angestellten und ich hoffe, Naddy und ich werden das genauso gut hinbekommen.
Obwohl ich hier nicht die Chefin bin, hat mir jeder zugehört und mich respektiert.
Würde ich einige nicht auch bereits privat kennen, würde ich glauben, diesen Respekt nur zu erhalten, weil ich Jolenes Geliebte bin und es sich keiner mit ihr verscherzen will, weil er mich nicht anständig behandelt. Aber ich weiß, dass dies nicht der Grund ist. Jolene hat hier einfach eine sehr gute Struktur an Personal geschaffen. Es gibt keine eskalierenden Diskrepanzen, keiner fühlt sich hier unwohl oder missverstanden, besser oder weniger besser gestellt. Natürlich bleiben Diskussionen und Missverständnisse nicht aus, aber der Umgang mit solchen Situation wird von Jolene ziemlich gut gemeistert. Das Verhältnis hier ist zu allen und auch untereinander sehr freundschaftlich und locker. Und doch wissen sie alle, dass sie dieses Privileg bei Jolene nicht ausreizen sollten.
Dass ich hier heute stehe und für Jolene die Besprechung und Aufgabenverteilung übernehme, gibt mir einen kleinen Einblick in das, was BNS eigentlich so macht.
Ich bin in der IT-Branche nicht so bewandert, wie Jolene, und doch reichen meine Kenntnisse aus, um zu erkennen, dass das Programm, das dort auf dem Monitor zu sehen ist, nicht dazu dient, ein Netzwerk zu überwachen. Den einen oder anderen Befehl kenne ich und weiß, was er bedeutet. Und auch die Aufträge, die ich an Hector und Naresh verteilt habe, waren klar genug formuliert. Um den Firmen zu zeigen, wie schlecht deren Netzwerk geschützt ist, verschaffen sich ihre Jungs Zutritt in jenes. Und schon hat Jolene neue Kunden. Und jene, die sie bereits hat, hat sie vermutlich über genau diesen Weg bekommen und schützt jetzt deren Netzwerk vor Leuten wie sie. Eigentlich ganz clever. Und bisher hat ihr das offensichtlich auch noch keiner krumm genommen. Im Gegenteil, manche Unternehmen kommen sogar auf sie zu und möchten, dass Jolene deren Firewalls überwindet, um zu wissen ob und welche Lücken ihr System hat.
Und bei dieser hohen Auftragslage ist es kein Wunder, dass Jolene keinen von den Jungs mal eben für einen Tag abstellen kann, um uns das Netzwerk einzurichten.

Mein nächster Stopp ist die Apotheke. Bereits das ganze Wochenende hat Jolene gekränkelt und das, was sie an Erkältungszeug da hatte, verbraucht. Wir brauchen also Nachschub - vor allem, weil ein kleines Kind bei uns lebt. Es wäre äußerst ungünstig, wenn sich Chester etwas einfängt, denn dann geht der nie endende Kreislauf los. Und nicht auszudenken, was los ist, wenn er die anderen im Kindergarten damit ansteckt. Vielleicht ist ja auch das der Grund, wieso er heute so anhänglich war? Immerhin habe ich mich das ganze Wochenende hauptsächlich mit ihm beschäftigt und ihn nicht in die Nähe seiner Mama gelassen.
Erkältungscreme, Erkältungsbad, Erkältungstabletten und sogar japanisches Minzöl. Letzteres wird ihr auf jeden Fall die Atemwege freiballern; durch die Augen. Und meine gleich mit. Und die von Rex. Und die der Nachbarn. Vielleicht sollte ich alle Fenster aufreißen, bevor ich das kleine Fläschchen öffne?
Am besten jage ich Jolene erst in die Wanne, schmiere sie dann mit der Creme ein und verabreiche ihr den Tee. Das Minzöl nutze ich besser nur, wenn alles andere nicht hilft.
Mit diesem Plan und dem ganzen Erkältungskram in der Tasche lenke ich meinen kleinen Flitzer durch die Straßen, geradewegs nach Hause, wo Jolene hoffentlich im Bett liegt und meine Anweisung des Auskurierens befolgt.

Jolene (+ Cait)Where stories live. Discover now