[Fünf] - Dünnes Eis

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In der Wohnung ist es gespenstisch still. Nicht mal der Fernseher läuft und auch kein einziges Licht brennt, die Abenddämmerung legt sich über die gesamte Wohnung und lässt sie trüb erscheinen.
»Mama«, ruft Chester, dem das vermutlich genauso merkwürdig vorkommt, und rennt sofort los, als ich ihn auf den Boden absetze.
Ich folge ihm und kann es gerade noch so verhindern, dass er sich auf seine Mutter stürzt und diese weckt.
Jolene liegt eingerollt und in der Decke komplett eingemummt auf der Couch und schläft. Wieder, oder immer noch. Da der Fernseher nicht mehr läuft, gehe ich vom Letzteren aus.
Um Chester zur Stille aufzurufen, halte ich meinen Zeigefinger vor die Lippen. »Lass' Mama schlafen«, bitte ich ihn. Dennoch beuge ich mich leicht über Jolene und lege meine Hand auf ihre Stirn. Sie ist leicht feucht und fühlt sich kühl an, während ihre Wangen regelrecht glühen und auch gerötet sind. Auch ihre Atmung ist beschleunigt und zeigt, wie ihr Körper gegen die Erkältung kämpft. Da es Jolene wirklich schwer erwischt hat, ist es nicht verwunderlich, dass sie so erschöpft ist.
Vorsichtig entziehe ich ihr die Wärmflasche und setze neues Wasser im Kocher auf. Anschließend schleichen Chester und ich auf leisen Sohlen ins Badezimmer, wo ich den Jungen ausziehe und ein Bad einlasse.
Aus seinen Schuhen, seiner Hose und sogar Unterhose kommt mir der halbe Sandkasten entgegen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie er es den ganzen Tag damit aushalten kann. Selbst in seinen Haaren finde ich Sand.
»Na, dann wird es Zeit, dass du in die Wanne kommst.« Ich lächle ihm entgegen und setze ihn ins Wasser.
Sofort greift er nach sämtlichen Spielsachen, die immer mit ihm Baden müssen. Und während ich ihn Wasche und vom täglichen Sandkastendreck befreie, planscht er freudig kichernd herum. Wobei er selbst dabei deutlich weniger euphorisch ist, als sonst. Vermutlich hat er mittags nicht so lange geschlafen, wie er es eigentlich sollte, und dann noch der lange Nachmittag mit mir draußen an der frischen Luft. Selbst ein Kind mit solch einem hohen Energielevel hat seine Grenzen.
Als ich mit ihm fertig bin und ihn aus der Wanne hole, zeigt er mir seine kindliche, fantasiereiche Welt, zeigt im Raum herum und erzählt mir irgendwas, während ich ihn abtrockne.
Im Vergleich zu Samantha ist Chester wirklich Pflegeleicht und umgänglich. Vielleicht liegt es daran, weil er ein Junge ist, und diese ohnehin unkomplizierter sind. Bei Sam hatte ich jedes Mal große Diskussionen und viel Gequengel, wenn es ums Baden und Schlafen ging. Auch beim Essen war sie mäkelig und zickig. Eigentlich ist sie es heute noch, wenn ich an Naddys neidvolle Worte und ihren gequälten Gesichtsausdruck denke, wenn sie die Einfachheit bei Chester sieht. Allerdings ist Sam nun mal ihre Tochter und da der Apfel nie weit vom Baum fällt, ist es eben auch nicht verwunderlich. Das Temperament hat Sam ganz eindeutig von ihrer Mutter. Denn Jonas ist von der ruhigen Sorte Mensch, den so schnell nichts erschüttert und alles sehr gelassen nimmt.

Kaum liegt Chester in seinem Bett und hat den Nuckel im Mund, greift er nach seinem weichen Dinosaurier, dessen Brust leuchtet, während aus dem Bauch eine einschläfernde, sanfte Melodie erklingt.
Weil Jolene das so handhabt und Chester es gewohnt ist, greife ich nach einem der kleinen Kinderbücher und beginne, ihm daraus vorzulesen; auch wenn ich mir sicher bin, dass er mir gar nicht wirklich zuhört und lieber mit seinem Saurier spielt.

Erst als von dem kleinen Jungen keine Regung mehr kommt und der Dino verstummt bleibt, halte ich inne und warte einen Moment. Die ruhige Atmung aber verrät mir, dass er eingeschlafen ist und bewege mich leise aus dem Zimmer heraus, zurück in den Wohnbereich an die Küchenanrichte, um mit dem gekochten Wasser eine neue Kanne Tee aufzusetzen.
Erschrocken zucke ich zusammen, als sich zwei Arme um mich legen und sich Jolene von hinten an mich schmiegt. Ihr Kinn dabei auf meine Schulter gelegt, sieht sie mir dabei zu, wie ich die Teebeutel im Wasser auf und ab tunke.
»Haben wir dich geweckt?«, frage ich und drehe mich ihr zu.
»Der Wasserkocher«, antwortet sie mit rauchiger Stimme und nimmt mir die Schnüre der Teebeutel aus der Hand und tunkt sie nun selbst.
»Hast du bis eben durchgeschlafen?«, will ich wissen und lege meine Hand erneut an ihre Stirn.
»Ich fühle mich, als hätte ich seit Tagen gar nicht geschlafen«, raunt sie unzufrieden.
»Du solltest dich wieder hinlegen«, empfehle ich. »Du hast Fieber.«
»Erzählst du mir von deinem Tag?« Sie ignoriert meine Worte und gießt sich etwas von dem Tee in ein Glas.
Mein Gesicht verzieht sich angeekelt, als ich sehe, wie viel Zucker sie dazu gibt.
»Was? Ohne kann man das Zeug nicht trinken«, kommentiert sie meinen Blick.
»Ohne ist der Tee aber hilfreicher«, gebe ich tadelnd wieder.
»Mir egal«, grummelt sie und nippt an der dampfenden, goldbraunen Flüssigkeit. Im Vorbeigehen drückt sie mir einen kurzen Kuss auf die Stirn.
»Wo gehst du hin?«, frage ich verdutzt, als sie sich wieder zur Couch begibt.
»Nach Japan«, gibt sie trocken von sich.
»Bett?!« Auffordernd deute ich zum Schlafzimmer.
Bevor sie sich setzt, sieht sie in die Richtung, in die ich zeige und scheint über etwas nachzudenken.
»Zu weit«, entscheidet sie sich schließlich und legt sich wieder auf die Couch.
»Aber mit deutlich mehr Ruhe, dann muss ich hier nämlich nicht aufpassen, nicht allzu laut zu sein«, versuche ich, sie zu überreden.
»Ich mag es, wenn du laut bist.« Das freche Grinsen und die zuckenden Augenbrauen lassen deutlich genug wissen, was sie meint.
In diesem Moment entscheide ich, dass es ihr gar nicht so schlecht gehen kann, wenn sie noch zu solchen Scherzen aufgelegt ist.
Entsprechend verdrehe ich meine Augen, kann mir ein Schmunzeln aber auch nicht verkneifen. Jolene rutscht soweit zur Seite, dass ich mich zu ihr legen kann.
Sofort schmiegt sie sich an mich und vergräbt ihr Gesicht in meinem Oberteil. Es ist ungewöhnlich, denn normalerweise bin ich diejenige, die sich anschmiegt und in ihren Armen liegt.
Ebenso ungewöhnlich ist auch, dass sie sich helfen lässt. Das ist wohl aber einfach dem Fakt geschuldet, weil sie krank ist und gar nicht die Nerven dafür hat, sich irgendwie durchzusetzen.

Jolene (+ Cait)Where stories live. Discover now