-61- Gebrochen

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Plötzlich lärmte das Geräusch eines dumpfen Aufpralls durch die Landschaft und ließ den Boden unter mir vibrieren. Mit einem Mal schreckte ich hoch. Der Mond stand tief und die Luft war von Rauch umgeben. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, denn es fühlte sich nur wie ein Wimpernschlag an.
,,Was war das?", fragte Ori und stand hektisch vom Boden auf. Er hatte sich mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt und blickte nun genau zur Seestadt. Als ich seinem Blick folgte, kam ein löchriges Gefühl in meinem Bauch hoch. Die Stadt auf dem See stand lichterloh in Flammen.
,,Er ... er ist wohl abgestürzt. Ich... ich habe es gesehen. Der Drache... er liegt dort unten!", meldete Dori.
,,Der Drache ist tot! Smaug ist tot! Er wurde besiegt!" Er sah mit einem strahlenden Ausdruck zu seinen Gefährten.
,,Bei meinem Barte, ich glaube, du hast recht! Seht doch, dort!", rief Gloin und ich folgte seinem Blick. Ich entdeckte drei große schwarze Raben, die ein lautes Krächzen von sich gaben und die Spitze des Berges umkreisten.
,,Die Raben Erebors kehren zum Berg zurück! Das muss das Zeichen sein." Gloin blickte fasziniert zu den Raben und ich reckte den Kopf in die Höhe, um ihnen hinterherzusehen. Die Raben waren ungewöhnlich groß und ihre Federn tintenschwarz. Noch nie hatte ich solche Vögel gesehen. Die Zwerge standen alle auf und Ori trat einen aufgeweckten Schritt auf die Berge zu. Balin legte Gloin die Hand auf die Schulter und drückte sie. Auf seinem Gesicht lag ein breites Lächeln.
,,Aye. Das ist das Zeichen. Und die Nachricht wird sich rasch verbreiten. Denn dann weiß bald jeder in ganz Mittelerde, dass der Drache tot ist! Er wurde zu Fall gebracht!" Die Zwerge stießen einen erleichterten Freuderuf aus und selbst Oris Ausdruck munterte sich auf. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Einerseits war ich erleichtert, dass niemand mehr durch den Feuersturm des Drachen zu Schaden kommen konnte. Andererseits bekam ich ein Stechen bei dem Gedanken an die vielen armen Menschen, die an diesem Abend ihr Leben verloren hatten. Ich fühlte mich schuldig. Denn indirekt war ich für ihren grausamen Tod verantwortlich. Den Tod vieler unschuldiger Menschen, Männer, Frauen, Kinder. Ich war es. Ich bin Schuld. Ihr Blut klebt an meinen Händen. Hätte ich doch nur nicht den Drachen geweckt und das alles hier ausgelöst, schoss mir durch den Kopf. Ein schreckliches Gefühl kam in mir hoch. Doch da spürte ich wieder die Hand auf meinem Rücken. Sie stützte mich.
Die Zwerge jubelten laut und umarmten sich überschwänglich in ihrer Freude. Ich sah ihnen mit verzwickter Miene zu. Ich spürte ein bestimmtes Augenpaar auf mir und sah nach links. Thorin musterte mein Gesicht und seine Hand strich mir fürsorglich über den Rücken. Meine Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. Er verstand, was in mir vorging und hatte die gleichen Bedenken wie ich. Das Verständnis in seinen Augen verlieh mir Mut.
,,Gehen wir und feiern den Tod des Drachen mit unseren Ahnen!", entschied Gloin und stapfte zugleich auf den Einsamen Berg zu. Die anderen Zwerge stimmten ihm zu und Thorin stand auf. Die Zwerge stießen freudig die Hände in die Luft und folgten Gloin. Doch als ich mich ebenfalls zum Gehen wenden wollte, erlangte eine Bewegung in meinem Augenwinkel meine Aufmerksamkeit.
Es war ein Flügelschlag.
Ich fror auf der Stelle ein und starrte zu dem Schatten über der Seestadt. Zwei gelbe blitzende Augen leuchteten mir entgegen. Rauchwolken sammelten sich beim umgestürzten Glockenturm. Ein rasselndes Geräusch durchwütete die Luft. Die feiernden Zwerge verstummten auf der Stelle.
Es war der Drache. Er lebte. Smaug war am Leben. Schwach und doch mit einem starken Flügelschwung türmte er sich über der brennenden Stadt auf. Graziös wie eh und je stieß er in die Lüfte. Er hob seinen Kopf und stieß ein hasserfülltes Brüllen aus.
,,Menschen! Zwerge! Diebe! Allesamt werdet ihr den Zorn des Königs unter dem Berge spüren! Mein Gold wird eure Sippen zerreißen! Niederwalzen! VERNICHTEN!" Ein weiterer Turm der Seestadt stürzte um und entfernte Schreie sammelten sich in der Luft.
,,ICH WERDE ZURÜCKKEHREN UND EUCH ALLE FRESSEN!" Ein letztes Brüllen durchschnitt die Abendluft und dann flog der Drache fort. Hinter den Bergen verschwand seine von Blut getränkte Silhouette. Zu erstarrt war ich, um mich zu lösen oder einen anderen Gedanken als unseren bevorstehenden Tod zu fassen. Sei es im Feuer oder im Rachen des Drachen.
Jeder der Zwerge stand still und rührte keinen Muskel. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis Balin seinen Mund öffnete und endlich die Totenstille beendete.
,,Das... das meine Jungs, wird entweder unser Untergang oder der letzte Beweis des unbrechbaren Zwergengeschlechts sein." Dwalin legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter, doch sagte nichts weiteres. Ich verstand ihre scheinbare Ruhe nicht, denn in mir bahnte sich ein Feuer an. Mit wachsender Panik überhäuften sich meine Gedanken. Der Drache ist nicht tot. Smaug ist nicht tot. Er wurde verwundet, ja. Doch noch immer ist er am Leben. Und er kommt zurück, das versichert er uns. Er wird seinen Hass und seine Wut sammeln und tobender denn je zurückkehren. Hektisch meldete ich mich zu Wort:
,,Ihr- ihr könnt doch jetzt hier nicht einfach so herumstehen! Wir müssen da runter! Wir müssen den Menschen helfen! Unseren Freunden! Fili und Kili, Oin und Bofur! Bard, Sigrid, Bain, Tilda! Wir müssen los, schnell!" Keiner der Zwerge machte Anstalten sich zu bewegen und sie alle sahen mich nur an.
,,Los jetzt, wir müssen gehen! Sofort!" Aus Frust packte ich Ori am Arm und versuchte ihn aus seiner Starre zu lösen und voranzuschieben, doch er wollte nicht.
,,Wir müssen ihnen helfen! Jetzt geht doch endlich!"
,,NEIN!" Vor Schreck stoppte ich. Meine kläglichen Versuche die anderen zu animieren führten zu nichts und ich ließ von Ori ab, der sich die Schulter rieb. Ich drehte meinen ganzen Körper zu der Stimme, die mir so laut in den Ohren dröhnte, doch diesmal keine Freude, sondern nur Unverständnis verbreitete. Ich runzelte die Stirn und blickte zu Thorin. Wie war das? Sein Zorn legte sich sofort, doch ein Ausdruck der Kälte verhakte sich in seinen sonst schimmernden Augen. Anscheinend hatte ich einen Knackpunkt getroffen.
,,Nein." Seine Stimme war nun ruhig.
,,Wir werden das Königreich sichern und wiederaufbauen. Als Zufluchtsort wenn der Drache zurückkommt. Für uns und die Menschen." Wenig überzeugt sah ich ihn an, denn etwas an ihm ließ mich nicht los, etwas war anders und das erst, seit der Drache den Berg zurückgelassen hatte. Vorerst. Wieso verhält er sich so eigenartig? Ohne ein weiteres Wort schritt er an mir vorbei und steuerte den Weg zurück zum Tor von Erebor an. Welches nun zerstört war. Die anderen Zwerge liefen ihm schweigend hinterher und unterstützten wohl die Meinung ihres Königs, sonst hätten sie sich eingemischt. Es störte mich sehr, dass keiner von ihnen um das Leid und Wohlergehen unserer Freunde, ihrer Brüder, den Menschen und dem Schicksal der Stadt besorgt war. Während des Marsches zurück zum Berg grübelte ich weiter und kam zu der weiteren Erkenntnis, dass die Zwerge nur nichts tun wollten, weil sie wussten, sie könnten nicht helfen. Oder es gäbe niemanden mehr, dem sie helfen könnten. Ein wenig verstand ich sie, doch der Gedanke daran, tatenlos auf ein Zeichen der anderen zu warten, sei es ein Lebenszeichen oder ihr schrecklicher Tod, machte mich verrückt. Viel lieber wollte ich mich in das Chaos der Überlebenden stürzen und ihnen irgendwie beistehen. Vielleicht ist es wirklich die beste Idee, das Tor wieder zu richten und den Erebor als Zufluchtsort aufzubauen, stellte ich fest. Vielleicht ist Thorins Plan doch sehr sinngemäß. Doch wieso ist er so laut geworden? Wieso wollte er mich so schnell zum Schweigen bringen? Irgendetwas an meinen Worten muss ihn gestört haben. Doch was genau?
Nach einer guten Viertelstunde standen wir vor dem zertrümmerten Tor des Erebor und begutachteten die Schäden schweigend. Niemals hätte ich jetzt die Kraft aufwenden können, diese Steine zu heben. Den anderen Zwergen schien es genauso zu gehen und auch Thorin bemerkte die schwere Arbeit, die dahinter steckte.
,,Gehen wir. Wir kümmern uns später darum", beschloss er und wir folgten ihm durch die nun todesstillen Hallen des Erebor. Wir durchquerten die Halle, in der die Zwergenstatue in flüssiges Gold verwandelt worden war und nun den gesamten Boden in ein glänzendes Goldbankett schmückte. Es war ein schöner Anblick, doch auf den zweiten Blick wollte ich nur schnell wieder weg von hier. Thorin blieb stehen und auch die Zwerge stoppten. Anscheinend wusste er nicht, wohin wir gehen sollten. Balin meldete sich zu Wort:
,,Wir könnten in die kleine Küche beim Westsaal gehen. Neben der zweiten Rüstungskammer." Thorin nickte ihm zu.
,,Gut. Geh voraus." Balin führte uns eine kleine Treppe hinauf und nach wenigen weiteren Minuten befanden wir uns in einem überschaubaren Raum. Von der Decke herunter hingen große Kessel, auf dem Boden verteilten sich Besteck und Geschirr und mitten im Raum stand eine große Tafelrunde. Alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
,,Wir bleiben hier für die Nacht. Morgen beginnen wir mit dem Aufbau unseres Zuhauses." Thorin stand unschlüssig im Raum. Trotz seiner starken Worte wirkte er orientierungslos.
,,Wir haben die Schlafmatten und Taschen in der ersten Kammer gelagert. Dwalin?", sagte Balin. Dwalin trat hervor und nickte Nori und Gloin zu und die drei verließen den Raum. Ori beschaffte sich aus dem Nichts einen Besen und befreite den Boden einigermaßen vom Staub und Dreck. Ich setzte mich auf einen der Stühle, den Ori mit Liebe nur für mich entstaubt und mich hingeführt hatte. Sobald ich dort für einen Moment verharrte, fing mein Bauch zu knurren an. Ich könnte wirklich wieder etwas zu Essen vertragen, fand ich hungrig. Ori war dabei, auch die anderen Stühle zu säubern und ich sah ihm dabei zu. Plötzlich setzte sich jemand genau gegenüber von mir. Thorin sah mir in die Augen und hatte einen entschuldigenden Blick aufgesetzt. Er wollte seine Hand nach mir ausstrecken, doch hielt inne. Wir waren ja nicht allein.
,,Ich wollte dich vorhin nicht so angreifen. Meine Worte waren viel zu laut und harsch. Es tut mir leid, Bilbo." Meine Mundwinkel gingen leicht in die Höhe. Doch Thorin ließ sich noch nicht zufriedenstellen.
,,Meine Reaktion war ohne Sinn. Doch ich habe die gleichen Bedenken wie du. Sorgen um Oin und Bofur, Fili und Kili. Natürlich auch um all jene, die uns geholfen haben. Und genau für die müssen wir den Erebor aufbauen und vor dem Drachen schützen. Ein weiteres Mal und diesmal wirklich", erklärte er. Ich verstand ihn vollkommen.
,,Du hast Recht. Und das von vorhin ist längst vergessen", meinte ich und lächelte ihm zu. Erleichtert erwiderte er es.
Dwalin, Nori und Gloin trafen wieder auf uns und die Zwerge verteilten die Schlafmatten, Decken und Kissen auf dem gefegten Boden. Thorin warf mir noch ein mildes Lächeln zu, um dann zu Dwalin zu eilen, der ihm zugewunken hatte. Gloin entdeckte die Kochstelle und errichtete unter der Hilfe eines kurzerhand zerbrochenen Holzstuhles ein kleines wärmendes Feuer. Ich setzte mich mit meinem Schlafsack davor und streckte die eisernen Finger aus, dabei starrte ich in die heiße Glut und konnte diesen Anblick nach einiger Zeit nicht mehr aushalten, bis ich mich mit dem Rücken dazu setzte. Bombur kam auf mich zu und wollte seinen mühsam mitgeschleppten Suppenkessel zum Einsatz bringen, sodass ich ein Stück zur Seite rückte. Die anderen Zwerge setzten sich ebenfalls auf ihre Decken und Schlafsäcke, dabei war bis auf leises Gemurmel kein einziger Mucks zu hören. Hinter mir zerkleinerte Bombur irgendwelche Kräuter, hackte Gemüse mit dem angelaufenen Silberbesteck, goss Wasser in den Kessel, brachte es zum Blubbern und schmiss das Gemüse hinein. Ich lauschte dem Geräusch des umrührenden Löffels, während mein Kopf völlig leer und nur von Bildern geprägt war. Von Feuer. Asche. Staub. Von Menschen in dem Flammenfeuer. Von meinen Freunden im Maul des Drachen. Es war zu viel.
Bombur riss mich aus meinen Gedanken, als er mir eine Schale Suppe anbot, die ich mit erhellter Laune eifrig entgegennahm. Im Nu hatte ich sie ausgelöffelt und erhielt gleich ohne Frage einen Nachschlag. Auch Thorin gesellte sich wieder zu mir. Er legte seinen Schlafsack neben meinem ab, dabei so unauffällig, dass er genauso gut neben einer Ziege gelegen haben könnte und niemanden hätte es interessiert, setzte sich und bekam schweigend eine Schale gehändigt. Wir aßen unsere Schalen leer und Bombur steckte mir unauffällig etwas Knäckebrot zu, sodass mein Magen danach endlich gesättigt war.
Wir alle waren zu müde und zu erschöpft um noch in dieser späten Nacht Pläne zu schmieden oder Taktiken aufzustellen, weshalb wir uns alle nach dem Essen in unsere Schlafsäcke verkrochen. Da das einzige Licht im Raum nur von der Feuerstelle ausging, war es eine angenehme Dunkelheit zum Schlafen, ohne, dass die Angst aufkam, dass der Drache zurückkehren würde und uns alle im Schlaf fraß. Jedenfalls hatte ich diesen Gedanken. Durch das harmonisch flackernde Licht und die angenehme Wärme entspannte sich mein Körper und löste sich aus seiner Panik. Ich schloss die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken, wie daran, dass unseren Freunden nichts zugestoßen wäre und der Drache nicht zurückkehrte. Meine Gedanken schweiften noch weiter und bei dem Bild vor meinen Augen legte sich ein Lächeln über meine Lippen. Im nächsten Moment zuckte ich zusammen, als der besagte Jemand mit seinen Fingern meine Hand ertastete. Er legte seine Finger auf meine und unmittelbar fühlte ich einen mutzusprechenden Strom in mir. Egal, was passiert sein mag, Thorin würde immer bei mir sein.
Das wusste ich genau.
Mit diesen Gedanken und der beruhigenden Verbindung zu Thorin, der mein Herz selbst in diesem einfachen Moment höher schlagen ließ, schlief ich ein.

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[A/N: Endlich ein neues Chapter, ja es hat ziemlich lange gedauert, aber das war es hoffentlich wert. ;) Mal schauen wie weit ich mit den nächsten komme. Spätestens in einem halben Jahr hab ich zig Zeit für diese Story und keine Sorge, es ist noch lange nicht Schluss damit! :P]

King Under The Moantain | bagginshieldWhere stories live. Discover now