Gefühle sind leise – ihre Auswirkung oft laut.
© Klaus Ender
Ich war ein verdammter Arsch.
»Ich bin dein Vater! Deswegen verdammt!«
Mein Magen rutschte an die Stelle, an der mein Herz schlug.
»Du bist betrunken.«
Meine Stimme klang nicht nach mir. Es war, als redete ein anderer für mich. Ich sah mir dabei zu, wie mein Vater immer lauter wurde und ich immer leiser.
»Was ist hier los?«, fragte jemand hinter mir und ich zuckte zusammen, als wäre ich ertappt worden. Die Worte verdampften auf meiner Zunge. Ich öffnete den Mund, aber schüttelte nur meinen Kopf.
Woher sollte ich wissen, was hier gerade geschah?
Jacob trottete an die Tür.
Nein.
Er drückte sich an meiner Mutter vorbei und beobachtete den tobenden Mann.
Nein.
Meine Schwester schlich hinter unserem Bruder her und zuckte zusammen bei den hässlichen Worten des fremden Mannes.
Nein.
Meine Mutter zog Jacob zurück, er hängte sich an ihre Hand und zupfte an ihrem Ärmel, während er den rasenden Mann ängstlich beobachtete. Meine Schwester hielt sich die Ohren zu.
Nein.
Ich wollte nicht, dass sie das hier mitbekamen.
»Was macht der Mann da?«, flüsterte Jacob und mein Magen zog sich zusammen.
»Geht ins Haus«, sagte meine Mutter.
Keiner von uns reagierte. Meine Geschwister standen da wie Statuen und lauschten den wütenden Worten des Mannes, der ihnen zu unbekannt war. Und mir zu bekannt.
»Ihr alle drei!«, befahl meine Mutter und es fuhr Bewegung in uns. Ich schaute sie an und zum ersten Mal, seit ich mich erinnern konnte, war ich froh, dass sie da war.
Ich ließ die Tür hinter mir zufallen und lauschte.
Drinnen war es unheimlich still. Die Stimme meines Vaters drang nur gedämpft durch die dicken Wände, aber in meinem Kopf dröhnten seine Worte.
»Joey?«
Jacob zog das O in meinem Namen bis auf drei Sekunden und zupfte an meinem Arm.
»Ist das dein Papa?«
Nein.
Der Mann da draußen war nur die Hülle. Vor vielen Jahren war er mein Papa gewesen.
»Komm, Jacob«, sagte meine Schwester in die Stille, die von ungesagten Worten zerpflückt wurde, »wir essen ein Eis. Im Eisschrank ist noch das mit den Schokosplittern.«
Jacob plapperte etwas, während er an der Hand meiner Schwester in die Küche verschwand und ich stand im Flur und lauschte den unverständlichen Worten meiner Eltern.
So war es schon oft gewesen.
»Er ist mein Sohn!«, drang plötzlich durch das dicke Holz der Tür und ich machte einen Schritt zurück.
Nein.
Stille.
Jemand riss die Tür auf und ich stand vor meiner Mutter, die es schaffte, mich von oben herab anzusehen, obwohl sie inzwischen kleiner war als ich. Sie schloss die Tür leiser, als ich es erwartete und schritt an mir vorbei.
»Was ist mit ihm?«, fragte ich und wusste nicht, woher die Worte kamen. Sie schaute nicht zurück, hatte keinen einzigen Blick für mich, während sie antwortete.
»Er ist betrunken.«
Ich schnaubte.
Als wüsste ich das nicht. Als hätte ich das nicht schon tausendfach erlebt.
»Wo wird er schlafen?«, fragte ich.
Meine Mutter wedelte mit der Hand, als wäre die Frage eine lästige Fliege.
»Du kannst ihn nicht einfach –«
Jetzt drehte sie sich abrupt um und funkelte mich an. Unterdrückte Wut rauschte in ihrer Stimme.
»Ich kann. Und damit ist das Thema beendet.«
Ich starrte sie an.
»Und wage es nicht, ihn wieder hierherzuschleppen in diesem Zustand.«
»Ich habe nicht –«
Sie ließ die Küchentür vor meiner Nase zufallen und ich starrte das Holz an, hörte, wie Jacob und Serenity meine Mutter mit Fragen bombardierten und ich machte auf der Stelle kehrt. Ich ertrug es nicht.
Mein Blick fiel auf die Haustür. Ich öffnete sie und schob meinen Kopf zwischen den Spalt. Keine Spur von meinem Vater. Erleichterung durchströmte mich und mit springenden Schritten stieg ich die Treppe hinauf, blieb wie angewurzelt stehen und schaute zurück.
Was, wenn er keinen Ort hatte? Was, wenn er einfach nur eine Nacht hier hatte übernachten wollen? Was, wenn alles nur wieder einmal aus dem Ruder gelaufen war? Wenn er es gar nicht so gemeint hatte? Vielleicht hatte er Hilfe gebraucht?
Mit rasendem Herzen riss ich die Tür erneut auf und rannte hinaus.
Irgendwo musste er doch sein.
Es war nicht mein Problem, wo er abblieb.
Zitternd jagte ich die Straße entlang.
Es konnte mir egal sein. Er war alt genug.
Wenn er trank, war das seine Sache.
Ich konnte ihn nicht in diesem Zustand allein lassen.
Was, wenn er auf die Straße taumelte und fiel? Wenn er überfahren werden würde? Wenn er sich den Kopf aufschlug? Wenn er –
Ich rannte in den nächsten Park und sah nur einen Mann, der mit seinem Hund Gassi ging. Gehetzt floh mein Blick über die Wege und Parkbänke.
»Vater?«, rief ich und eine Joggerin warf mir einen misstrauischen Blick über die Schulter zu. Ich kratzte mich verlegen am Hinterkopf und eilte weiter.
Die Sonne verschwand hinter den Bäumen.
Was, wenn er irgendwo im Gebüsch lag? Wenn er sich erbrach und an seiner Kotze erstickte? Wenn er sich seinen Nacken brach? Was, wenn er von jemandem verschlagen wurde? Wenn er selbst jemanden verschlug?
Meine Lunge brannte. In meine Seite stachen winzige Messer, aber ich zwang mich weiter.
Der rosarote Abendhimmel wich den Sternen.
Wo verdammt konnte er sein?
Gestriegelte Reihenhäuser wurden zu Hochbauten.
Ich kannte hier die Schleichwege blind, wusste, wo die gesprungenen Pflastersteine lagen und die Gullideckel gewöhnlich geklaut wurden. Die Luft schmeckte derber. Die Geräusche tönten anders.
Vor dem Hochhaus, in dessen Schatten meine Jugend stand, strauchelte eine Silhouette.
Es konnte mir egal sein.
Es war nicht meine Schuld.
Ich beobachtete ihn stumm. Der Mann schwankte, fluchte und fuhr sich wütend durch sein strähniges Haar. Dann kratzte er sich über die Stoppeln am Kinn und wandte sich zu mir.
Aber warum fühlte ich mich dann so?
Fragen, die sich schon so oft zwischen meine Gedanken gebohrt hatten, zuckten wie Blitze in meinem Kopf.
Warum trinkst du wieder?
Warum schaffst du es nicht, aufzuhören?
Wenn nicht für dich, dann für mich?
Bin ich nicht wichtig genug? Bin ich so wenig wert?
Für dich?
Ich schwieg.
Er schwieg.
Und ich lauschte seinem schweren Atem und hörte die Worte meiner Mutter und drehte mich von seinem Gestank weg.
»Wo wirst du schlafen?«
Er schwieg.
Ich schwieg.
»Hast du zehn Euro?«, fragte er irgendwann nach zehn Minuten. Vielleicht waren es auch zehn Sekunden, die sich ausgedehnt hatten, wie der Schmerz, wenn man langsam ein Pflaster von der Haut zog.
»Wofür?«
»Weil ich sie brauche, verdammt.«
Ich schwieg.
Er wankte.
Ich hielt ihn.
Er wehrte sich.
Ich hielt ihn fester.
»Du solltest den Rausch ausschlafen. Morgen sieht alles schon ganz anders aus.«
Niemand von uns glaubte meine Worte. Dafür hatten wir diese Szene schon zu oft nachgespielt.
Ich wusste nicht wohin, steckte hier fest an der Stelle und kam weder vor noch zurück. Ich konnte nirgendswohin. Überall wären diese Blicke, diese Untertöne, die Hilflosigkeit der anderen und meine Beschwichtigungen, es wäre alles okay.
Dabei wusste jeder, dass ich log.
Also blieb ich hier auf der angekritzelten Bank sitzen. Neben mir der Mann, der viel zu vertraut und schmerzhaft fremd war. Sein Kopf fiel auf meine Schulter und ich spürte sein Schnarchen an meinem Ohr. Ich starrte in den Himmel und zog meinen Pullover fester zusammen. Die Nacht war nicht kühl, aber mein Inneres.
Vielleicht hatte Christian Recht.
Der Gedanke krallte sich in meinem Kopf fest, wie die feinen Stacheln einer Kaktee in die Haut. Auf den ersten Blick übersah man die feinen Nadeln, dachte sich nichts dabei, bis man diesen Schmerz spürte, weil sich die Stacheln immer tiefer bohrten.
Die Sterne verschwanden nach und nach, wie im Zeitraffer. Die Sonne übermalte sie in einem Rot-Lila.
Ich versuchte die Wange meines Vaters von meiner Schulter abzuschütteln, aber ich schaffte es nicht. Mir taten alle Muskeln und Gelenke weh. Das Gewicht vom Kopf meines Vaters schien mich an diese Bank zu ketten.
»Ich muss zur Schule«, murmelte ich.
»Hey, wo? Was?«, stieß er aus, während er hochschreckte und sich irritiert umschaute. Ich grub meine Hände in die Hosentaschen, kickte einen Kieselstein vor meinen Füßen weg, aber machte keine Gestalten, mich aufzurichten.
»Zur Schule.«
Mein Vater sank neben mir ein und während er seinen Arm über seine Augen legte, roch ich den abgestandenen Gestank von Schweiß und Alkohol. Es erinnerte mich an meine Kindheit.
»Als ob das etwas bringen würde. Für uns gibt's keine gute Zukunft. Kapierst du das nicht?«, murmelte er. »So welche wie wir müssen dreimal so hart arbeiten und bekommen am Ende nicht einmal die Hälfte. Für die anderen sind wir asoziale Verlierer. Da kommen wir nie raus.«
Ich kramte nach Gegenargumenten, aber mir fielen keine ein. Ich schwieg und blieb sitzen, blinzelte in die Morgensonne und ignorierte den Gestank meines Vaters.
Der erste, der sich bei mir meldete, war Yugi. Noch vor der Frühstückspause schrieb er mir, ob es mir gut ginge. Nur wenig später folgte Tristan, dessen Anrufe ich ablehnte und der mir dann per Sprachnachrichten die Ohren vollheulte, ich könnte ihn und so nicht einfach hängen lassen. Der Unterricht wäre ohne mich einfach ein Reinfall und ob ich wirklich krank wäre, wer's glaubte.
Meine Mutter hatte kein einziges Mal angerufen.
Irgendwann erhob sich mein Vater. Ich beobachtete irritiert, wie er einfach loslief. Als wäre es das Selbstverständlichste, die Nacht im Park zu verbringen, bis er wieder einigermaßen geradeaus marschieren konnte.
»Hey, wohin gehst du?«, fragte ich und quälte mich von der Bank. Durch meinen Nacken blitze ein Schmerz hinab über meine Wirbelsäule. Ich ächzte.
»Ich muss – ich habe Pläne«, wiegelte mein Vater ab. »Hast du mal einen Zehner?«
»Wofür?«
Er runzelte die Stirn und ich konnte beobachten, wie sich seine Gedanken zu einem Gewitter verdichteten.
»Das geht dich nichts an.«
Die Ironie blieb meinem Vater verborgen. Hitze sammelte sich in meinem Bauch, wie kleine Explosionen. Men Vater hatte noch nie kapiert, dass seine Entscheidungen uns alle berührten. Dass sein Verhalten uns alle mit in einen Sumpf zogen, aus dem man sich nicht mehr allein heraushieven konnte. Also stand ich da zwischen dem, was ich tun sollte und dem, was ich tun würde. Unklar war mir nur, was wie aussah.
Ich sank tiefer in das Moor aus Verantwortung und Schuld und Hilflosigkeit und starrte meinem Vater nach, der jemanden ansprach. Ich wusste, was er fragte, drehte mich um und verschwand aus dem heruntergekommenen Park.
Die Tage waren grau.
Als hätte jemand die Farben aus ihnen gezogen. Ich schlief im Zimmer, das meine Mutter ›meines‹ nannte und ich ›das‹ und verschwand bevor morgens jemand aufstand irgendwohin, wo mich niemand fand, und tauchte spätabends, wenn alle schliefen wieder auf. Yugis und Tristans Fragen wimmelte ich ab. Theas Blicke vermied ich, denn ich traf meine Freunde einfach nicht. Ich schrieb ihnen kurze Nachrichten mit schlechten Ausreden, warum ich schon seit einer Woche nicht mehr in der Schule war und ich benutzte mein Handy sonst nicht, denn das Internet vergaß nicht so schnell.
Ich saß auf der Straße und zeichnete, während ich meinem Vater unauffällig folgte. Er saß auf der Straße und stellte Fremden Fragen, während sie vorbeiliefen. Es war, als beobachtete ich selbst einen Unbekannten. Der da konnte unmöglich mein Vater sein.
Ich fühlte nichts.
Ich spürte Leere.
Als ich nachts die Haustür aufschloss und mich hineinschlich, wartete meine Mutter im Türrahmen zur Küche und blickte mich an. Sie schwieg. Nur sie schaffte es, so viele Worte in die Stille zu pressen.
»Wo warst du?«, fragte sie, als ich ohne einen Ton an ihr vorbeischlendern wollte.
Weg, dachte ich, aber schwieg.
Ich war leise. Weil ich es manchmal nicht ertrug, mich selbst zu hören.
»Mit wem?«
Niemandem, dachte ich, aber sagte nichts.
Ich war leise. Weil die Welt so laut war und meine Stimme verschluckte.
Wie hätte ich es ihr auch schon erklären sollen?
»Du kannst deinem Vater nicht helfen.«
Ich ballte die Fäuste. Leere füllte sich mit heißer Säure. In mir schlugen die Wellen aus Zorn zusammen.
»Warum?«, zischte ich. »Weil er es nicht anders verdient? Weil du ihn im Stich lässt? Genauso wie du mich im Stich gelassen hast?«
Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie geschlagen.
»Ich –«, begann sie.
»Dir sind wir doch schon lange scheißegal.«
Ich war ein verdammter Arsch. Weil ich es manchmal nicht anders ertrug.
Meine Mutter starrte mich an. Ich konnte beobachten, wie ihre Fassung aus ihr wich.
»Und dein Vater?«, flüsterte sie. »Hast du ihn mal gefragt, wie wichtig wir ihm sind?«
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Was wir sind | Joey Wheeler & Seto Kaiba [ Yu-Gi-Oh!-Fanfiction ]
Fanfiction»Du wirst es bereuen. Kaiba wird dich fallen lassen und du wirst dir wünschen, du hättest ihn nie näher kennengelernt.« ▫ Aber bis es soweit war, wäre es das nicht alles wert gewesen? ▫ [ Joey Wheeler und Seto Kaiba | Puppyshipping | Romantik | Dr...