6 - Next one

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Aufatmend schloss Ruby die große, schwere Bibliothekstür hinter sich. Sie musste gar nicht so tun, als hätte sie Kopfschmerzen. Sie hatte wirklich welche. Isabelle hatte sie fast eine halbe Stunde lang mit Fragen zu ihrem Freund gelöchert, von dem ihre Mutter ihr ganz offensichtlich geschrieben hatte, und das war mehr, als sie im Moment ertragen konnte.

Danke, Mom, dachte sie sarkastisch und trottete entnervt zu ihrem Zimmer. Sie wollte auspacken, duschen und sich umziehen. Die Reise durch das Portal hatte zwar nur Sekunden gedauert, vermutlich nicht einmal so lang, aber sie fühlte sich so schmutzig und erschöpft, als hätte sie den ganzen Weg hier her zu Fuß zurück gelegt.

Natürlich würden sich Isabelle und Alec an die Abmachung halten. Ab jetzt war sie nur noch Elizabeth Fairchild, die mit ihrem Freund davon gelaufen war, um sich irgendwo in der irdischen Welt heimlich abzusetzen. Und ihre Eltern bestraften sie mit der Trennung, wollten ihr die Welt aber auch gleichzeitig mit Hilfe erfahrener Schattenjäger nahe bringen. Schließlich wollten sie Ruby nicht verlieren. Angeblich widerfuhr ihrem Freund gerade das gleiche, nur ganz woanders. Wenigstens musste sie es nicht spielen, dass sie ihn vermisste und das meiste an dieser Geschichte war nicht mal gelogen.

In einem Anflug überwältigender Traurigkeit blieb sie stehen und stützte sich schwer atmend an der Wand ab. Nur nicht weinen. Diese Litanei wiederholte sie immer wieder in ihrem Kopf, bis die Worte ihre Bedeutung verloren hatten, aber es half. Langsam beruhigte sich ihr rasendes Herz, ihre Augen brannten weniger und schniefend rieb sie sich die verräterischen Spuren von den Wangen.

Vor ihr erklangen Stimmen. Wenn sie sich nicht irrte, kam bald der Gang, in dem ihr Zimmer lag, und sie dachte darüber nach, los zu rennen und sich zu verstecken. Ihr war nicht nach Gesellschaft zumute. Sie wollte allein sein und schlafen. Nur niemanden sehen. So freundlich Isabelle und Alec auch zu ihr gewesen waren und so gut sie Rubys Eltern auch kannten - sie waren eben Fremde, und Ruby hatte Heimweh. Sie hatte früher schon Heimweh gehabt, wenn sie von der Schule aus einen Ausflug aufs Land machten, wo es Trainingsgelände gab. Aber diese Ausflüge dauerten meistens nur eine Woche, vielleicht zwei, und Alicante war nur ein, zwei Stunden weit weg. Hier konnte es genauso gut auch auf einem anderen Planeten liegen.

Drei Gestalten bogen um die Ecke und Ruby erkannte Jolene, die sich zwischen den beiden Jungen eingehakt hatte, die am Morgen vor der Bibliothek gestanden hatten. Keiner von ihnen bemerkte sie anfangs, und das war auch kein Wunder. Jolene hatte das dunkelgrüne Kleid durch ein burgunderrotes ausgetauscht, das noch ein Stück kürzer war und viel tiefer ausgeschnitten. Nicht unanständig tief, nein, aber tief genug, um einen Jungen abzulenken. Dazu trug sie schwarze Pumps und goldene, klimpernde Ohrringe, die ihr bis auf den bloßen Nacken hingen. Ihr Haar war hochgesteckt, nur einzelne Strähnen lagen wie zufällig auf ihrer blassen Haut. Ruby war sicher, dass daran nichts zufällig war.

"Es ist so nett, dass ihr mich hinbringt!", zwitscherte Jolene und ihre schwarz umrandeten Augen mit dem blaugrünen Lidschatten klimperten hilfesuchend. "Ich hätte mich ganz sicher hier verlaufen."

Die drei waren schon auf ihrer Höhe, als einer der Jungen aufsah und Ruby direkt in die Augen blickte. Seine waren goldbraun, sein rotbraunes Haar war ordentlich zurückgekämmt. Eine Brille mit randlosen Gläsern ließ sein ebenmäßiges Gesicht älter wirken. Ihr Herz setzte ein paar Takte aus, als er weiter ging, sein Kopf sich aber weiter zu ihr drehte, bis er hätte stehen bleiben müssen. Jolene ließ das aber nicht zu.wif

Groß war er. Ruby hoffte, sie würde nicht rot werden. Sie hatte immer schon eine Schwäche für große Jungs gehabt. Alexej war fast einen halben Kopf größer als sie. Und bei einem Meter achtzig als Frau musste man lange suchen, um so jemanden zu finden.

Der zweite drehte kurz den Kopf zu ihr. Seine Frisur war merkwürdig: an den Seiten so kurz wie möglich, so dass man die ursprüngliche Farbe gerade noch erahnen konnte, in der Mitte aufgestellt zu vielen kleinen platinblonden Spitzen, die im tiefschwarzen Ansatz begannen. Seine blauen Augen überflogen sie von Kopf bis Fuß, dann zwinkerte er ihr nachlässig zu und blickte wieder konzentriert auf Jolene. So, wie er aussah, mit zerrissenen Klamotten und diesen irren Haaren, hätte er ihr eigentlich zuerst auffallen müssen.

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