26 - Sag die Wahrheit

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"Pack jetzt endlich deine Sachen!" Jace hämmerte wütend gegen die verschlossene Tür. Seine Tochter hatte die Anweisungen tatsächlich befolgt und war seit zwei Tagen nicht mehr heraus gekommen - oder zumindest hatte er sie nicht mehr gesehen -, aber glücklicher machte ihn das auch nicht. "Elizabeth!"

Etwas raschelte und schließlich hörte er, wie der Schlüssel sich drehte. Die Tür ging auf und er kniff die Lippen zusammen, als er sie vor sich sah. Sie hatte tiefe, dunkle Schatten unter den Augen, ihr Haar war zerzaust und sie starrte ihn so düster an, dass er sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Einen vollgestopften Rucksack in der Hand drängte sie sich an ihm vorbei, gerade höflich genug, ihn nicht weg zu stoßen. Sie sah dünn aus, als er ihr hinterher sah. Dünner als sonst. Warum war ihm das bisher nicht aufgefallen?

"Elizabeth!", rief er ihr nach und beeilte sich, zu ihr aufzuschließen. In seinem Inneren bekämpften sich Zorn und Besorgnis gleichermaßen.

"Lass mich in Ruhe, Dad", murmelte sie. Die langen, blonden Strähnen ihres Ponys verbargen ihre Augen halb. "Geht's Mom gut?" Sie ließ ihn gar nicht antworten. "Toll, dass du ihr mal wieder nichts abschlagen konntest. Wenigstens dieses eine mal! Sie muss ja unbedingt heute noch nach Alicante zurück! Es hätte nicht noch ein paar Tage dauern können, bis sie wieder allein laufen kann!"

Jace kniff die Lippen zusammen und fragte sich, woher sie das so genau wusste, aber er packte sie am Arm und zwang sie, stehen zu bleiben. "So wirst du nicht mit mir reden, ich bin dein Vater!", brauste er auf, atmete dann aber tief durch. Sie konnte nicht wissen, dass er diese Diskussion schon mit Jocelyn geführt hatte. Und sie garantiert später noch mal führen musste, denn seine Schwiegermutter glaubte, er würde Clary überreden, hier zu bleiben. Was natürlich gelogen war. Clary ließ sich nicht überreden, wenn sie nicht wollte, also hatte er ihre Mutter angelogen, damit wenigstens Jocelyn Ruhe gab.

"Ich weiß, dass das nicht in Ordnung ist." Jace bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. "Aber deine Mutter hat sich so schrecklich aufgeregt, dass es eigentlich egal ist, ob wir heute abreisen oder nächste Woche. Und dieser Schreiberling, der die ganze Zeit um sie herum schleicht und sie mit Fragen löchert, hilft da auch nicht. Wenn wir in Alicante sind, wird sie Robert alles sagen, was er wissen will, und dann haben wir es hinter uns."

"Pah!", schnaubte Ruby, und versuchte sich los zu machen. "Können wir jetzt gehen? Ich wär gern vor den ersten Schneefällen zurück!"

Er wollte am liebsten schreien, aber statt dessen zog er sie in seine Arme. Sie war immer noch sein kleines Mädchen, auch jetzt noch, mit sechzehn. Zwei Monate nur, zwei Monate war sie weg von zuhause und er erkannte sie fast nicht mehr wieder. Als sie Alexej kennen gelernt hatte, dachte er schon, es würde schwierig werden. Sein kleines Mädchen wurde eine Frau. Aber jetzt war sie beinahe eine Fremde für ihn.

"Wir gehen", sagte er leise und küsste sanft ihr Haar. Irgendwo da drin war sie noch, seine kleine Tochter. Clary sagte immer, er müsste mehr Geduld mit ihr haben. Aber wie machte man das, wenn Kinder erwachsen wurden und man wusste, dass sie genau das gleiche tun würden, wie man selbst in diesem Alter?

Ruby drückte ihn kurz, ein winziger Augenblick, bevor sie sich seiner Umarmung entzog. Das Haar überschattete immer noch ihr Gesicht aber er war sicher, dass er irgendwo dort ein winziges Lächeln gesehen hatte. Das genügte ihm. Musste ihm genügen.


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Es tat beinahe weh, diese Umarmung. Sie wollte ihn festhalten und irgendwie die Zeit zurückdrehen, aber sie konnte nicht. Ruby machte sich los und lief weiter. Ihre Augen brannten. Sie hatte seit zwei Tagen nicht geschlafen, weil ihr zu viele Gedanken im Kopf herum schossen.

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