Magdalena

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Thema: Nationalsozialismus, Briefe, Tod

15. November 1939

Lieber Unbekannter,
Wie geht es dir? Bist du glücklich mit deinem Leben? Ich hoffe es. Ich hoffe auch, dass du ein guter Mensch bist. Was du mit dem Brief machst, sei dir überlassen. Ich werde ihn als eine Art Testament benutzen. Oder letzte Worte. Ich hätte nur gerne, dass jemand das hier liest, weil das dann alles ist, was von mir übrig bleibt.

Lieber Unbekannter, ich möchte dir von mir erzählen. Mein Name ist Magdalena und ich bin 12 Jahre alt, in zwei Monaten werde ich 13. Ich lebe in Deutschland, in Brandenburg, und ich lese und tanze gerne. Jeden Montag und Mittwoch habe ich Tanzunterricht, gleich nach der Schule. Außerdem bin ich gerne draußen an der frischen Luft und spaziere, meistens ziemlich lange. Meine beste Freundin heißt Helga, aber ich hab sie schon seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Ich darf nämlich nicht mehr zur Schule. Alles hat im Frühling angefangen. Es war ein schöner Frühling, sehr mild. Mit blühenden Blumen und der Magie des Lebens, die der Frühling nun mal hat.

Und dann hat Mama ihre Arbeit verloren. Nein, sie wurde ihr gestohlen. Wie ein paar Schlüssel. Erst denkt man, man hat sie vergessen, schiebt die Schuld auf sich. Und dann fällt einem auf, dass man die Schlüssel sorgfältig in der Tasche verstaut hat und dass sie jetzt nicht mehr da sind. Dass jemand sie still und heimlich weggenommen hat, ohne dass wer etwas mitbekommt. Aber mein Papa hat noch gearbeitet und wir haben ihn unterstützt, so gut es ging. Mein Bruder Wilhelm, Mama und ich. Wir haben Arbeiten übernommen, die sonst keiner machen wollte, weil es das einzige war, was wir machen durften. Wir haben Toiletten geputzt; Betten bezogen und Böden geschrubbt. Eine Zeit lang hat Will auch den Müll abgeholt. Und dann wurde es wieder besser. Ich habe ein Himbeereis mit Helga gegessen, weil ich sie zu der Zeit noch sehen durfte und auch noch zur Schule gehen durfte. Aber dann, irgendwann im Mai, hat man mir gesagt, dass das jetzt anders sein würde. Dass ich Jüdin war. Dass ich kein ganzer Mensch mehr war, sondern nur noch teilweise. Dass dieser andere Teil jüdisch war. Und ich habe es nicht verstanden, weil mein toter Opa jüdisch war und nicht ich. Nicht meine Familie. Nicht Mama und Papa und Will. Wir waren Deutsche, wir waren Menschen.

Und dann kam der Herbst und Papa verlor seine Arbeit. Und dann waren wir arm. Wir zogen ins Ghetto, verkauften alles, was wir hatten und doch war es nicht genug. Ich hätte alles verkauft, was ich hatte, jeden Gegenstand in meinem Zimmer, aber sie waren nichts wert. Ich hatte alle meine kleinen Sachen, alle meine großen Träum mitgenommen ins Wohnzimmer. Ich hatte sie meinen Eltern geben wollen, doch Mama hatte nur traurig den Kopf geschüttelt und mich in den Arm genommen. ‚Verkauf‘ nicht deine Träume, Liebling.“, hatte sie gesagt, in ihrer weichen Mama-Art. Aber jetzt wusste ich auch, dass es eh nichts gebracht hätte, dass meine Träume nichts mehr wert waren. Und deshalb sitze ich auf diesem Bett in diesem Zimmer, das nicht mir gehört und weine kleine, stille Tränen. Kleine, stille Tränen von einem kleinen, stillen Mädchen in einer kleinen, stillen Welt.

Sie war mir mal so groß, so bunt vorgekommen. Ich hatte die Pinguine sehen wollen, die Kirschblütenbäume in Japan, die Pyramiden in Ägypten. Aber meine Welt endete an den Zäunen des Ghettos, an denen ich entlang spazieren konnte ohne wirklich spazieren zu gehen. Und morgen würde ich weg sein. Weil sie immer Leute wegnahmen, weil Leute scheinbar verloren gingen wie Schlüssel, obwohl sie in Wahrheit gestohlen wurden, ganz heimlich und leise.

Nach dem Sommer kam der Herbst und es war der Herbst, in dem ich zum ersten Mal Maronen gegessen hatte, weil man das hier nun mal aß. Und ich lernte den Unterschied zwischen Maronen und Kastanien, aber Kastanien waren mir trotzdem lieber.

Jetzt ist der Winter ins Land gezogen und alles, was mir bleibt, sind eine verschrumpelte Kastanie, eine Feder von einem Kugelschreiber und ein Perlenarmband. Die Feder und das Armband sind im Brief, die Kastanie hat leider nicht herein gepasst. Ich glaube, sie sind so sicherer, weil man sie mir so nicht wegnehmen kann. Ich will dir ihre Geschichte erzählen, lieber Unbekannter. Die Kastanie ist nicht besonders, aber ich habe mir in den Finger gestochen, um sie zu bekommen und dann habe ich sie behalten. Ich mochte die glatte Oberfläche, die Art, wie sie sich in meine Hand schmiegte, Aber jetzt ist sie ganz verschrumpelt und ich will sie trotzdem nicht hergeben, auch wenn sie sich nicht mehr so gut in meine Hand schmiegt.

Und die Feder ist alles, was bleibt von meinem Kugelschreiber. Will hat ihn mir geschenkt, zu meinem elften Geburtstag und ich habe mich so erwachsen gefühlt, weil nur Erwachsene Kugelschreiber benutzen. Und dann ist die Farbe ausgegangen und irgendwann ist er kaputt gegangen, entzweit, aber die Feder ist noch da und funktioniert und wartet auf einen Kugelscheiber.

Mama und Papa haben sich nie gestritten, weißt du? Sie haben geredet und geschwiegen und manchmal haben sie geweint, wenn sie dachten, ich schlafe schon. Und manchmal hat auch Will geweint und ich habe ganz oft geweint. Manchmal haben wir auch alle geweint und uns umarmt, weil wir ja trotzdem eine Familie waren, auch wenn alle dachten, wir wären Juden.

Das Perlarmband haben Helga und ich zusammen gemacht, mit unseren Mamas, weil wir das noch nicht so gut konnten. Und dann hatten wir zwei Armbänder, Freundschaftsarmbänder aus kleinen blauen und weißen Perlen. Und auch das Armband ist kaputt gegangen, weil alles kaputt gegangen ist irgendwie. Aber ich habe es repariert. Jetzt ist es heil. Ein bisschen zerschunden zwar, ein paar Perlen fehlen, im Faden sind viele Knoten, aber es ist heil und alles andere ist kaputt.

Lieber Unbekannter, ich hoffe, du bist glücklich; ich hoffe, du kannst glücklich sein und dein Leben leben und die Welt sehen, weil ich es nicht kann. Ich wünsche dir alles Gute und verabschiede mich jetzt, weil man das in Briefen so macht.
Lebe wohl.

In Liebe,
Magdalena




Ich hoffe es hat euch gefallen :) An der Stelle wollte ich nur kurz erwähnen, dass Sätze wie 'dass dieser andere Teil jüdisch war' 'Wir waren Deutsche, wir waren Menschen' 'weil wir ja trotzdem eine Familie waren, auch wenn alle dachten, wir wären Juden' aus der Sicht von Magdalena geschrieben sind, nicht aus meiner und dass sie so denkt, weil alles, was mit dem Judentum zu tun hat, ihr Leben verschlimmert hat und zu ihrem Tod geführt hat, und sie zu jung war um zu verstehen dass das nicht der wahre Grund war.

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