Wahnsinn

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Thema: Wahnsinn, Verstand, Blut kommt vor

Der Wahnsinn war da, schlummerte in ihr wie ein wildes Tier in einem Käfig, brach aus, um wieder eingesperrt zu werden; brach aus, um die Kontrolle zu übernehmen, sie zu entreißen.
Sie fürchtete sich nicht mehr vor ihm.

Menschen fürchten das, was sie nicht kennen, nicht kontrollieren können, doch sie kannte ihn – zu gut, zu lange. Bestimmt hatte es eine Zeit gegeben, da sie normal gewesen war, sie kicherte. Normal, sie? Ja sicher. Das Kichern klang hohl, so wie ihr Kopf es anscheinend geworden war. Hohle Nuss höhnte sie, das andere sie, dasselbe sie wie sie. Sich gefangen nehmen zu lassen, einsperren zu lassen. Oder hatte sie sich selbst eingesperrt, in einem Moment der Klarheit, in dem sie erkannt hatte, was für eine Gefahr sie darstellte? Sie wusste es nicht. Sie wusste auch nicht, ob sie eingesperrt war, oder sich nur einbildete, eingesperrt zu sein. Genauso wie das Tier in ihr - sie wusste nicht, ob es eingesperrt war. Ob es einen Käfig gab, was dieser Käfig war, wenn es ihn denn gab. Ob dieser Käfig ihr Verstand war. Wohl kaum. Ihr Verstand ähnelte eher einem Wollknäuel, wieder kicherte sie und mit ihr tausend andere, als das Kichern von den Wänden zurückgeworfen wurde und Echos durch den Raum flogen. Falls es diese Wände gab, vielleicht kicherte sie auch ganz alleine.

Aber sie hatte keine Angst mehr vor dem Wahnsinn, auch nicht vor der Einsamkeit. Sie wehrte sich nicht mehr, wenn das wilde Tier aus dem Käfig brach, sich auf sie stürzte und sie zerfleischte; Muskeln, Sehnen, Knochen durchbiss, zerstörte, nichts als eine unförmige Maße auf dem Boden zurückließ, aus der gebrochene Knochen hervorragten wie Ruinen einer Überschwemmung. Einer Überschwemmung aus Blut und Fleisch. Nein, sie für fürchtete sich nicht vor dem wilden Tier, denn, soviel war ihr klar, das wilde Tier war sie selbst.

Wenn man eingesperrt war, dann passierte etwas in einem, im Kopf. Man bekam Angst vor Dingen, vor denen man bisher keine Angst  gehabt hatte. Man bekam Angst vor der Dunkelheit. Obwohl sie sich nicht vor der Dunkelheit fürchtete, niemand hatte sich je vor der Dunkelheit gefürchtet, nur vor dem, was sich darin verbarg. Und nun verbarg sich darin ihr Verstand, so leer, dass er ganze Welten mit Abgründen hätte füllen können. Doch hier, in diesem Raum, hatten keine Welten Platz und so drückte sich die Leere an die Wände.

Sie hatte Angst vor den Gestalten der Dunkelheit, weil sie nicht wusste, ob diese echt waren. Der Mann, der da hinten saß, in der Ecke, der summte und sie anstarrte, mit glasigen Augen; gab es ihn? Was würde sie tun, wenn er aufstünde, die kaputten Knochen und dürren Beine ein letztes Mal benutzte, zu ihr käme. Sie würde sich nicht wehren, vor dem Wahnsinnigen, dem Gleichgesinnten. Sie würde sich nicht vor sich selbst wehren, schließlich war sie der Wahnsinn, der dahinten saß, in der Ecke und summte und mit glasigen Auge in die Leere starrte, als gäbe es dort mehr als nur einen Abgrund.

Wörter: 497

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