Kapitel 1.

157 9 6
                                    

„Ich muss dich jetzt alleine lassen, Amy, ich kann dir nicht weiter helfen!“ Mr Smith sieht mich bedauernd an. „Ich denke diese Familie wird dir gefallen. Ich weiß, dass du schon in vielen anderen Familien gelebt hast, aber diese hier klang echt vielversprechend, wenn ich Oscar trauen kann.“ Ich nicke nur stumm und mein Blick huscht kurz zu dem Haus, neben dem wir stehen. Es ist ein ganz normales Haus ohne viel Schnickschnack. Als ich mich wieder Mr Smith zu wende, hält er mir die Hand hin und sagt: „Wir sehen uns dann in zwei Monaten, wenn ich dich besuche, um zu sehen, ob du dich gut eingelebt hast!“ Er lächelt mich noch einmal aufmunternd an und schüttelt kräftig meine Hand. Mir bleibt nichts anderes übrig, als noch einmal zu nicken. Meine Hand ist immer noch mit seiner verankert und er schüttelt sie länger als andere Menschen. Es ist, als würde er die Zeit, in der er noch bei mir ist, noch herauszögern wollen. Hat er etwa ein schlechtes Gewissen? Weil er schon so viele Familien für mich organisiert ist, von denen er versprochen hat, dass sie gut sein werden und es doch jedes Mal in die Hosen gegangen ist? Gibt er sich dafür die Schuld? Als er endlich aufhört zu schütteln, bin ich plötzlich diejenige, die nicht loslassen möchte. Ich weiß selbst nicht wieso, aber ich kann meine Hand einfach nicht mehr lockern. Mr Smith sieht mich kurz ein wenig irritiert an, versucht aber, den Gesichtsausdruck schnell wieder zu verbergen. Dann fragt er leicht zögernd: „Hast du noch Fragen? Ist irgendetwas unklar?“

Ich beginne zu stammeln: „Ich … äh...“ Für einen Moment huscht mein Blick zur Seite. Aus dem Augenwinkel sehe ich mein Gepäck, das auf dem Boden steht. Eigentlich habe ich keine Fragen mehr. Aber dann sage ich: „Wie viele Geschwister sind es noch?“

„Drei“, antwortet Mr Smith und sein Blick huscht zu seiner Uhr am Handgelenk. Ich erinnere mich, dass er gesagt hat, dass seine Frau auf ihn wartet. „Zwei Brüder, eine Schwester.“

„Danke“, murmle ich.

Für einen Moment ist es still, dann öffnet Mr Smith langsam den Mund, als wolle er etwas sagen. Ich warte einen Augenblick, dann beginnt er: „Es tut mir Leid, Amy, aber ich muss jetzt wirklich gehen! Du kannst mich anrufen, wenn du etwas brauchst!“ Ich schlucke den Kloß hinunter, der mir im Hals aufgestiegen ist und nicke erneut.

Und dann dreht er sich um. Während er zu seinem Auto geht, das er auf der anderen Straßenseite geparkt hat, dreht er sich noch ein paar Mal um. Bedauernd. Ich zwinge mich, zurück zu lächeln, um ihm nicht zu zeigen, wie viel Angst ich tatsächlich habe. Obwohl ich mir sicher bin, dass er es sowieso schon weiß. Schließlich hat er alles mit mir durchgemacht. Er schließt sein Auto auf, öffnet die Türe, steigt ein und startet den Motor. Ich beobachte jeden einzelnen seiner Schritte, die er tut, bis sein Auto sich schließlich vorwärts bewegt. Am Straßenrand liegt matschiger Schnee, der die Felgen seines Autos bespritzt, als er losfährt.

Und dann bin ich allein. Ich denke daran, was Mr Smith schon alles für mich getan hat. Ich kenne ihn, seit ich drei Jahre alt bin. Mr Smith arbeitet im Jugendamt und ist für Kinder aus schwierigen Familien zuständig. Er entscheidet, ob sie eine Pflegefamilie brauchen oder nicht. Ich bin eines der Kinder, denen er geholfen hat. Wie oft er mir schon geholfen hat! Ich möchte gar nicht daran denken, wie oft ich meine Pflegefamilien wechseln musste. Es war zu oft, um sich alle zu merken. Und zählen möchte ich es sowieso nicht.

Nach dem Tod meiner Eltern, ein paar Wochen nach meiner Geburt, habe ich die ersten drei Jahre meines Lebens in einem katholischen Waisenhaus verbracht. Ich erinnere mich, dass es einer der wenigen Orte war, an denen ich mich sicher und geborgen gefühlt habe. Aber leider sind mir von dort viel zu wenige Erinnerungen geblieben. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, in welchem Ort es steht. Wenn ich die Chance hätte, dorthin zurückzukehren, würde ich es sofort tun. Aber so ist es nun mal nicht. Kurz nach meinem dritten Geburtstag wurde ich zu meiner ersten Pflegefamilie gebracht. Sie war wahrscheinlich die schlimmste Familie von allen, bei denen ich je gewesen bin. Sie taten Dinge mit mir... Sie fügten mir Schmerzen zu, die man sich kaum vorstellen konnte. Und nachdem ich mich vor Schmerz nicht mehr rühren konnte, vergingen sich die Männer an mir...

Will you still love me?Where stories live. Discover now