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Während Melinda zur Hütte zurückkehrte, fragte sie sich, ob der Zaun schon länger beschädigt war oder der Wandersmann das Loch hineingehext hatte. Nachdem ihr Bullerjahn von selbstschießenden Waffen in der Asservatenkammer und Eberts Weg in den Wahnsinn erzählt hatte, traute sie ihm alles zu. Bloß um sie zu ärgern, ihr eine Nase zu drehen, aus lauter Jux und Tollerei. Melinda fragte sich, wieweit ihr eigener Wahnsinn bereits gediehen war, ihre wirren Gedanken, ihr fantasievolles Kopfkino, das Tiere sprechen und Gegenstände ein Eigenleben entwickeln ließ. Die Pillen, welche sie sich nach Lust und Laune einwarf, trugen ein Übriges dazu bei. Abgesehen von ihrer Entgleisung im Gymnasium, war sie bisher gut mit ihnen zurechtgekommen. Sie hatten ihr bereits in vielen Situationen genutzt, ihr den entscheidenden Vorteil erbracht. Wer sagte, dass sie dasselbe Schicksal ereilen musste wie den alten Ebert? Man konnte vor seinen Dämonen davonlaufen, man konnte sie aber auch umarmen.

Neben der Eingangstür zur Hütte blieb Melinda stehen und griff sich auf den Rücken. Nichts. Natürlich nicht. Man musste mit seinen Dämonen sprechen, vielleicht verstanden sie einen.
Welches Spiel spielst du, Wandersmann? Welches Ziel verfolgst du? Hast du einen Plan? Warum ich? Warum ich? Kannst du nicht einfach wieder verschwinden, so wie du gekommen bist? Krieche zurück in die Wälder, wo du herumspuken und achtlose Spaziergänger erschrecken kannst, aber lass mich und diese Stadt in Frieden!
Melinda lauschte in die Finsternis. In der Ferne das Heranrauschen der Regionalbahn, die letzte für heute. Ein Knacken zwischen den Bäumen. Dann ein Rascheln. Irgendwo fiel nasser Schnee zu Boden. Plötzlich ein leises Knistern an ihrem Ohr, als faltete jemand Butterbrotpapier. Ein verhaltenes Brechen von Holz. Knack. Knack. Je länger Melinda lauschte, desto deutlicher schälte sich aus dem Rascheln ein Rhythmus, eine stumpfe Melodie, die ein Mensch niemals würde singen können, eine Sprache. Sie hatte sie schon einmal gehört, als sie mit Zippo am Fluss spazieren gegangen war und der Schatten des Wandersmanns sie zum Wasser gelockt hatte. Melinda erschrak. Etwas hatte ihr Bein berührt. Sie wirbelte herum und starrte in zwei Paar dunkler Hundeaugen. Schwanz wedelnd, mit dreckigen Schnauzen und lehmigen Pfoten strichen Zippo und Silva um ihre Beine, als erwarteten sie eine Belohnung für ihre Heimkehr. Melinda kniete sich hin und kraulte ihnen das Fell.
»Und ich dachte schon, der Wandersmann hätte euch geholt!«
Zippo legte eine Pfote auf ihren Arm und leckte ihr die Hand, während Silva sich in den Schnee legte und an etwas herumkaute, das sie von ihrer Streiftour mitgebracht hatte. Etwas Kleines, Dünnes, Graues. Melinda schluckte. Das konnte nicht sein! Ein weiterer Knochen? Sie musste ihn unbedingt haben, konnte aber nicht einschätzen, wie Silva reagieren würde, wenn sie danach griff. Nicht jeder Hund war so duldsam wie Zippo, der sich anstandslos alles aus dem Maul ziehen ließ, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben.
Melinda stand auf und lief in die Hütte, um ein Stück Käse aus dem Kühlschrank zu holen. Vor dem Ofen kniete Jan und stapelte Holz. Melinda wurde wärmer ums Herz. Zurück bei den Hunden wedelte sie mit der Käsescheibe vor Silvas Nase herum. Zippo hechelte. Er liebte Käse über alles und Melinda musste aufpassen, dass er Silva nicht zuvorkam. Zunächst ließ sich die Hündin nicht beeindrucken, doch als sie bemerkte, wie spannend ihr neuer Spielgefährte den hingehaltenen Bissen fand, erwachte auch ihr Interesse. Sie streckte die Nase nach oben und schnupperte. Speichel lief ihr aus dem Maul. Als der Knochen Melinda vor die Füße fiel, riss sie die Käsescheibe rasch in zwei Hälften und warf sie in den Garten. Zippo und Silva rannten los. Schnell schob sich Melinda den Strickpullover über die Hand, hob den Knochen auf, betrachtete ihn kurz und steckte ihn in die Tasche ihrer Jogginghose. Es konnte ein Hühnerbein aber auch etwas ganz anderes sein. In kurzen Abständen war sie auf zwei Knochen gestoßen, die verdächtig menschlich aussahen. Wenn es hell wurde, musste sie den Ort finden, an dem die Hunde gebuddelt hatten. Sie brauchte Gewissheit, dass sie ihre Nächte nicht auf einem Friedhof verbrachte. Die Hundegräber in ihrem Garten genügten ihr vollauf.

Zurück in der Hütte fiel ihr Blick auf das Handy. Hatte sie es vorhin nicht weiter links, gleich neben ihrer Teetasse liegengelassen? Nun lag es auf der rechten Seite des Tisches. War das wichtig? Möglich, dass sie sich täuschte. Jan schien ihre Rückkehr nicht bemerkt zu haben. Noch immer kniete er auf dem Boden, jedoch nicht mehr vor dem Ofen, sondern vor dem offenstehenden Spülschrank. Melinda rutschte das Herz in die Hose. Selbst von hier aus sah sie die zusammengeknüllte Plastiktüte hinter den Rohren, in der sich die Pistole befand.
»Suchst du was Bestimmtes?«
Jan zuckte kurz zusammen und zeigte dann zum Ofen.
»Ein Kehrblech. Das Holz war ganz schön dreckig!«
Melinda besah sich den Boden. Er war nicht schmutziger als sonst.
»Hängt neben der Tür.«
Jan stand auf, wobei er sich am Schrank abstützte, und lächelte sie verschämt an. Was für ein Schauspieler dachte sie und reichte ihm Besen und Kehrblech. Unbemerkt schloss sie den Spülschrank.
»Deine Silva ist ja ne ganz schön wilde!«
»Warum?«
»Sie und Zippo sind ausgebüchst, durch ein Zaunloch, haben sich die Gegend angesehen.«
Jan sah sie vorwurfsvoll an. Melinda spürte, dass sie sich verteidigen musste.
»Was denn? Du hast ein Loch im Wohnzimmerfenster und ich im Zaun. Damit sind wir quitt.«
»Silva ist nicht so eine!«
»Was meinst du?«
»Sie läuft nicht weg.«
»Ist sie aber!«
»Silva ist gut erzogen!«
»Ach, und Zippo nicht oder was!«
Darauf wusste Jan nichts zu erwidern. Erneut erinnerte er Melinda an einen Jungen, nun jedoch einen, der sich gegenüber seinen Eltern im Ton vergriffen hatte. Täuschte sie sich oder war es wirklich so, dass die seelisch Versehrten sie suchten wie die Nachtfalter das Licht? Oder war es Melinda, die es nicht lassen konnte, für alles und jeden die Mutter Theresa zu spielen? Sie dachte an Walden, die einsame Hütte, die Wildnis. Wer dort überleben wollte, musste zuerst an sich denken. Sie dankte Franky, dass er ihr dieses wunderbare Buch geschenkt hatte und schämte sich mit einem Mal unendlich dafür, dass sie sein Grab so lange Zeit nicht besucht hatte.

War die Stimmung zu Beginn bereits lauwarm gewesen, näherte sie sich jetzt der Gefriergrenze. Melinda befühlte den Knochen durch den Hosenstoff. Huhn oder Mensch?
»Die Hunde sind übrigens von selbst zurückgekommen während du Holz gestapelt hast.«
Als hätten sie ihr Lob gehört, drückten sich Zippo und Silva durch die angelehnte Tür und liefen schnurstracks auf Futternapf und Wasserschüssel zu.
»Na ihr Abenteurer! Hunger? Durst?«
Sie füllte die leeren Gefäße auf und sah den Hunden beim Kauen und Schlabbern zu. Jan stand neben ihr und trank stumm seinen Tee aus.
»Wo wirst du heute Nacht schlafen?«
Jan dachte nach oder tat zumindest so.
»Auf dem Jagdsitz vielleicht.«
Melinda schnaubte amüsiert. War das ein Witz? Meinte er das ernst? Oder war seine Bemerkung eine verpackte Bitte, bei Melinda in der Hütte bleiben zu dürfen? Sie beschloss, nicht darauf einzugehen. Unter keinen Umständen wollte sie die Nacht mit einem Kerl verbringen, der nicht zu wissen schien, ob er ein ausgewachsener Mann oder noch ein kleiner Junge war. Urteilte sie zu hart über Jan? Ihr Kopf flüsterte »Ja!«, ihr Bauch sagte »Nein!«. Bauch schlug Kopf. Fertig aus.

»Dein Handy hat wie wild vibriert als du draußen warst!«
Melinda sah auf den Tisch. Ihr Telefon hatte vorhin eindeutig weiter links gelegen! Egal. Sie scrollte durch ihre Nachrichten. Sophie hatte geschrieben und Bilder zweier Bücher geschickt. Auf dem einen war eine Art Mönch mit erhobenen Händen auf einer Waldlichtung zu sehen, auf dem anderen ein leuchtendes Pentagramm auf schwarzem Hintergrund. Magische Praktiken des Mittelalters und Uraltes Hexenwissen lauteten die Titel. Die Logos auf den Umschlägen ließen auf esoterische Verlage schließen.
Habe dir die Bücher zurückgelegt. Komm einfach vorbei! Bin morgen bis 16 Uhr da.
Hatte Melinda es doch gewusst, auf Sophie war Verlass! Man musste nur ein wenig Druck ausüben.

Jan hatte sich die Jacke übergezogen. In der Hand hielt er Silvas Leine. Hervorragend, er hatte verstanden, woher in dieser Hütte der Wind blies! Doch noch wollte er nicht gehen.
»Was machen die Ermittlungen?«
Melinda horchte auf.
»Weißt du schon mehr über ...«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sorry, laufende Ermittlungen. Lies morgen früh den Kreisanzeiger, dann weißt du mehr. Gab heute eine Pressekonferenz.
»Ist nur weil ...«
»Ich weiß, du hast ihr deinen Pilzkorb geschenkt. Sie war die Perle in Grambergs Gasthaus und Erik ist am Boden zerstört.«
»Ich kann nicht vergessen, wie sie dalag in dieser braunen Kutte, den Kopf in den Pilzen, die ganzen Maden.«
Jan schüttelte sich und verzog das Gesicht. Als sie das Wort Pilzkorb ausgesprochen hatte, war Melinda etwas eingefallen, was ihr schon länger im Kopf herumspukte. Sie erinnerte sich an das, was Bullerjahn ihr kurz nach dem Fund der Leiche erzählt hatte. Dass Jan Dressler zuerst Erik Gramberg und nicht die Polizei angerufen hatte und er zu diesem Zeitpunkt bereits zu wissen schien, um wen es sich bei der Toten handelte. Hatte Jan sie allein an ihrem Pilzkorb erkannt oder noch an etwas anderem? Ihren Schuhen, ihrer Hose, der Kutte? Hatte er Stella besser gekannt, als Melinda ahnte? Hatte er sie an der Form ihrer Hände, ihrer Finger oder Nägel erkannt?
Am liebsten hätte sie Jan zurück an den Tisch gedrückt, ihm den Schein einer gleißenden Lampe aufs Gesicht gerichtet und ihn verhört bis es quietschte. Doch sie fürchtete seinen unberechenbaren Zorn.

»Reisende soll man nicht aufhalten!«
Sie musste ihn loswerden, besser jetzt als gleich. Kein Verhör, kein weiteres Gespräch. Nur eine hastige Verabschiedung. Melinda wusste, dass Jan den Braten gerochen hatte, er ganz genau spürte, dass für ihn hier nichts zu holen war, mit welchen Absichten auch immer er sie aufgesucht hatte. Zum Abschied tätschelte sie Silvas Kopf, gab Jan die Hand und drückte erleichtert die Tür hinter ihm ins Schloss.

Pilzgericht (Krimi)Where stories live. Discover now