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Arndt parkte den Wagen in der holprigen Einfahrt neben dem Gästehaus, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und rüttelte Melinda leicht an der Schulter.

„Wie war das mit den Muntermachern? Wir sind da! Aufwachen!"

Melinda hob den Kopf und wischte sich die Spucke aus dem Mundwinkel. Mirtazapin, Sertralin, Amphetamin, Kokain, Zolpidem. So langsam verlor sie den Überblick was sie wofür oder wogegen einnahm. Am liebsten waren ihr die Aufputschmittel, die ihr zehn weitere Ohren, Augen, Nasen wachsen ließen und ihren Denkapparat auf Hochtouren brachten. Ein Hirn wie ein Rechenzentrum, Instinkte wie eine Wölfin, die Fähigkeit, jede Tiersprache in Echtzeit zu übersetzen.
Melinda rieb sich die verquollenen Augen und sah aus dem Seitenfenster zum Präsidium hinüber. In zwei Fenstern brannte noch Licht. Bullerjahns und Christiansens. Bullerjahn rauchte wahrscheinlich eine Zigarillo nach der anderen während er über Stellas Fall brütete und Christiansen telefonierte sich den Wolf, um die Pressekonferenz und den Einsatz der Hilfskräfte aus Hannover für die kommende Woche zu koordinieren. Melinda beneidete keinen von beiden. Eher spürte sie so etwas wie Mitleid.

Arndt wusste es besser. Bullerjahn war nach Hause gegangen. Sein erleuchtetes Fenster konnte eigentlich nur eins bedeuten: Christiansen stöberte in den Akten zum Fall Stella Blume herum. Möglich, dass ihr etwas auffiel, das allen anderen entgangen war.

Arndt half Melinda beim Hochtragen der Taschen, was sie zunächst abgelehnt, dann aber doch angenommen hatte, weil ihre Kräfte noch immer zu wünschen übrig ließen. Zippo witterte Melindas Anwesenheit bereits durch die Wohnungstür und bellte sich die Seele aus dem Leib. Als sie die Wohnung betrat, sprang sie der große Hund so ungestüm an, dass sie beinahe nach hinten übergefallen wäre.

„Alles gut, Großer! Bin ja wieder da! Alles gut!"

Melinda kniete sich hin und kraulte Zippo kräftig den Kopf, die Ohren, das Rückenfell. Wie hatte sie das vermisst! Pure Freude ohne Hintergedanken und heimtückische Berechnung. Sie schnupperte an ihm, legte die Wange an seinen Kopf.

„Und, kommst du mit mir, mein Großer? Kommst du mit mir?"

Arndt stand in der Tür zum Wohnzimmer und beobachtete sie.

„Warum bist du einfach abgehauen? Konntest du nicht bis morgen warten? Diese Leute da oben in der Klinik, die wollen dir nichts Böses tun, die wollen dir helfen!"

Melinda stöhnte genervt.

„Was hast du beim Kiosk gemacht? Hast du gewusst, dass ich komme?"

Melinda stand auf, griff nach den beiden Taschen und trug sie in ihr Zimmer. Arndt lief er ihr hinterher.

„Mensch Melinda, ich dachte wir ziehen das hier zusammen durch. Das mit deinen Pillen und dem ganzen Kram, das hättest du mir doch mal sagen können, bevor es zu spät war!"

Wenigstens einer von uns hat es geschafft, dachte Melinda. Fünfzig Prozent, das ist doch schon mal was.

„Es ist vorbei, Arndt. Vorbei, bevor es richtig begonnen hat. Das mit Winkler, unserem Brandstifter, das haben wir zwei wirklich gut hingekriegt! Damals in diesem verwitterten Garten, du auf dem Boden, ich mit Zippo auf dem Arm, da habe ich gedacht, wir schaffen das, wir wachsen zu einem Team zusammen, das man auf die härtesten Fälle ansetzen kann. Ich dachte zwischendurch, ich käme ohne diese ganzen Pillen aus."

Sie zuckte mit den Schultern. Ihr war schwindelig.

„War halt nicht so."

Arndt betrachtete seine Kollegin mit sorgenvollem Blick. Melinda klatschte in die Hände.

„Spare dir deinen Dackelblick! Ich bin nicht die arme Melinda, für die du mich hältst, die man an die Hand nehmen und durchs Leben führen muss. Ich mache ab jetzt mein Ding. Nutzt ja nichts. Bin eh raus aus'm Spiel! Hilfst du mir packen?"

Arndt nahm Melinda die zwei Koffer ab, die sie aus dem Schrank geholt hatte, legte sie aufs Bett und ließ die Schlösser aufschnappen. Er wartete darauf, dass Melinda ihm Stapel mit Hosen, T-Shirts und Unterwäsche reichte. Stattdessen griff sie wahllos in die Schrankfächer, zog die darin befindlichen Kleidungsstücke heraus und schmiss sie in hohem Bogen in die Koffer.

„Zusammenpressen! Notfalls daraufsetzen!"

„Weshalb diese Eile, Melinda? Wo willst du so schnell hin?"

Seine Kollegin antwortete nicht, schmiss einfach weiter Klamotten in Richtung der Koffer. Alles, was daneben landete, hob Arndt auf, legte es notdürftig zusammen und platzierte es behutsam dort, wo er im Koffer Platz fand.

„Melinda, du fehlst dem Team! Du glaubst ja nicht, welches Chaos da herrscht! Wir stecken fest, kommen nicht einen einzigen Schritt voran. Der Fall Stella Blume, ohne dich, der Fall, er ist eine Nummer zu groß für uns!"

Einen kurzen Moment unterbrach Melinda ihr wütendes Ausräumen des Schrankes, richtete eine Haarklemme auf ihrem Kopf und sah Arndt dabei fest in die Augen.

„Dann ist es eben so! Wer sagt auch, dass man mit zweieinhalb Beamten, einer in Vor-Rente, die anderen vorbelastet, einen solch komplexen Mordfall lösen kann? Wahnsinn, das ist Wahnsinn! Lasst es, lasst es doch einfach!"

Arndt konnte es nicht fassen. War das noch dieselbe Melinda, mit der er vor weniger als zwei Wochen den Brandstifter Winkler überführt hatte? Nein, musste er sich eingestehen, das war sie eindeutig nicht.

„Was ist mit deinen Zeichnungen? Zeichnest du noch? Hast du noch diese Anfälle?"

„Sie werden seltener."

„Schön!"

„Es geht mir besser. Ich habe den Eindruck, dass ich wieder ich selbst bin."

Melinda schnalzte mit der Zunge.

„Mit allem, was dazugehört, inklusive blöder Witze über Kolleginnen und machohaftem Auftreten?"

Arndt schwieg, was Melinda mit einem hässlichen Lachen quittierte. Sie war durch. Sie war sowas von durch. Und sie war unfair zu Arndt. Sie behandelte ihn mies. Das hatte er nicht verdient.

„Ihr habt doch bestimmt so wunderhübsche Stellwände mit all euren Ermittlungsergebnissen. Schießt du mir ein Bild davon?"

Arndt grinste.

„Und kannst du mir eine Knarre besorgen?"

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt