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Kurz nach elf traten sie an ihr Bett. Melinda stellte sich schlafend. Mund geöffnet, ein Speichelfaden auf der Wange. Sie roch den kalten Zigarrenrauch, der Bullerjahns Mantel entströmte, erkannte Arndts verhaltenes Räuspern und Beas leises Schnaufen, das ihrer Nase bei der kleinsten Bewegung entwich.
Wer hatte sie verraten? Wer hatte den Anruf getätigt? Gerda? Die Stationsleitung? Der Chefarzt? War das überhaupt wichtig? Nein. Nun waren sie hier. Lebendig, erwartungsvoll, vielleicht auch voller Sorge, wie es mit ihr weitergehen würde. Die tote Stella musste sie rund um die Uhr beschäftigen, schließlich saß Christiansen ihnen im Nacken. Die Frist musste bald abgelaufen sein. War sie bereits abgelaufen? Welcher Tag war heute? Melinda hatte es vergessen.
Ein Stuhl wurde über den Linoleumboden gezogen, dann noch einer. Jemand setzte sich auf den Bettrand. Das Metallgestell ächzte. Melinda roch Beas Parfum. Schwer, blumig mit einem Hauch Zimt. Arndt flüsterte: „Sie hat noch kein einziges Geschenk ausgepackt!" Jemand atmete tief ein. Dann Bullerjahns Stimme: „Ihr ist bestimmt noch nicht danach!"
Und Bea etwas vorwurfsvoll: „Ich habe ihr mein neues Buch eingepackt! Ist noch nicht mal im Handel!"

Sollte sie das Schauspiel weitertreiben, eventuell noch einen spektakulären Alptraum simulieren? Sie stöhnte leise, zog die Spucke in den Mund, schmatzte, als würde sie gerade eben erwachen.
Sie drehte den Kopf leicht zur Seite. Augen wie Kiemenschlitze. Wässriger Blick. Drei Gesichter. Blass. Dunkle Ringe unter den geröteten Augen. Ihr Herz begann zu hüpfen. Sie konnte nicht anders.
Der letzte Akt des Schauspiels begann. Ein herzhaftes Gähnen mit weit aufgerissenem Mund, dann die an die drei Gesichter gerichtete Frage: „Wo bin ich? Was wollen Sie hier?"
Einen größeren Schrecken hätte sie Bullerjahn, Arndt und Bea nicht einjagen können. So schlimm also stand es um Melinda.

„Wasser, ein Schluck Wasser!"
Nur noch einen Augenblick, einen winzigen Augenblick. Ach, sie liebte es, ihre Kollegen an der Nase herumzuführen. Mit zitternder Hand reichte Arndt ihr die Schnabeltasse. Melinda hörte Bea murmeln: „Ich kann das nicht, mein Gott, ich kann das nicht!" Bullerjahn hielt sie am Arm zurück. Es war Zeit für Melinda, den Scherz zu beenden.

„Okay, ihr trüben Tassen, habt ihr mir Arbeit mitgebracht?"
Erleichterte Gesichter, offenstehende Münder, prustendes, albernes Lachen. Bea beugte sich über sie, drückte ihr einen Kuss auf die Wange, zwackte sie ins Kinn.
„Unholdin du! Ich dachte schon du wärst, na du weißt schon, plemplem, von allen guten Geistern verlassen, na und so weiter!"
Theatralisch legte sie die Hand auf ihr Brustbein, schielte mit tränennassem Blick zur Decke und atmete tief ein.
Auch Arndt hatte seine Sprache wiedergefunden.
„Der Hund, Zippo, der ist keine Windhund-Pudel-Mischung! Das ist ein Golden Retriever mit einem Schuss Schäferhund. Dr. Grimme hat angerufen, hat sich nach uns und Zippo erkundigt. Sie wollte deine Nummer haben. Hat mir Vorträge über Mischlingsrüden gehalten, mir halb das Ohr abgekaut."
„Und?"
„Ich habe ihr die Nummer gegeben. Ist doch 'ne nette Frau!"
Arndt grinste anzüglich. Daher die zehn Mails von einer unbekannten Clara. Dr. Clara Grimme. Nach Melindas Geschmack rückte sie ihr ein wenig zu sehr auf die Pelle.

Bullerjahn wollte sich vor lauter Aufregung am liebsten ein Zigarillo anzünden. Melinda lebte. Es schien ihr gut zu gehen. Dr. Roses Stellungnahme zu ihrer Einsatzfähigkeit schob er ganz weit von sich. Am liebsten hätte er sie nie gehört. Was würde Melinda sagen? Nein, er wollte unter keinen Umständen der Überbringer der Heilsbotschaft sein.

„Bea, gib mir doch mal mein Handy! Und Arndt, im Schrank hängt mein Mantel. Guck in den Taschen nach. Da müssten ein Zettel, ne Visitenkarte und Fotos drin stecken. Gib mir die mal!"
Bea legte ihr das Handy auf die Bettdecke. Arndt stand auf und kam kurz darauf mit einer Handvoll Papierkram zurück, das er ebenfalls vor Melinda auf der Decke platzierte.
Melinda griff nach der Visitenkarte und wählte Elke Schraders Nummer. Sie nahm nicht sofort ab.
„Frau Schrader? Melinda Sieben hier. Ich wollte, ja, prima. Im Garten? Alles verkauft? Ich gratuliere! Frau Schrader, ich rufe wegen des Angebots, also, wegen des Gartens, ja, genau, noch immer. Ich bins ehr interessiert. Der Preis bleibt?"
Melinda hatte keine Ahnung, ob sie 3000 Euro auf dem Konto hatte. Dass sie im Krankenhaus lag, erzählte sie lieber nicht.
„Montagabend? Ja, passt. 18 Uhr. Prima. Bis dann! Tschüss!"
Melinda ließ das Handy sinken. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Die Farben im Raum schienen eine wärmere Tönung anzunehmen.

Bea, Arndt und Bullerjahn sahen sich ratlos an. Was hatte ihre Kollegin da gerade getan? Hatte sie einem Kaufvertrag zugestimmt? Was um Himmels Willen wollte sie kaufen? Sie wusste nicht, dass sie im nächsten Monat keine Bezüge mehr erhalten würde. Bullerjahn schluckte schwer, setzte bereits zum Sprechen an, wurde jedoch von Arndt zurückgehalten. Der Blick seines Kollegen signalisierte ihm, dass es besser war, wenn Melinda es von Dr. Rose persönlich erfuhr.

Auf der gestärkten Bettdecke hatte Melinda die Fotos ausgebreitet, welche Sophie geschossen hatte.
„Sagt mir bitte, was ihr seht! Und bitte, seit ehrlich!"

Bea beugte sich als erste über die Bilder.
„Das ist der Eingang zum Gästehaus. Auf jedem Bild. Da huschen Schatten über die Wände. Äste. Zweige."
Auch Bullerjahn besah sich die Fotos.
„Mit viel Fantasie könnte man meinen, der Baum sei lebendig. Weißt du, wenn man die Bilder so hintereinander anschaut."
Bullerjahn blickte auf. Melinda nickte stumm.

Arndt stand am Fußende des Bettes und schwieg. Dann griff er mit seinen großen Händen nach den Fotos, schob sie übereinander und blätterte sie schnell hintereinander durch. Sein Blick signalisierte: ich erkenne es wieder. Ich erkenne DICH wieder, alter Haudegen. Du bist es, die Gestalt aus meinem Skizzenbuch.
Melinda atmete erleichtert auf. Sie sahen es auch. Sahen, was Melinda sah. Die Tabletten mochten ihr den Verstand vernebelt haben, sie Dinge sehen lassen, die nicht existierten. Doch der Wandersmann lebte, wer oder was er auch immer war, wo auch immer er lauerte, wo auch immer er sich versteckte.

Pilzgericht (Krimi)Where stories live. Discover now