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Melinda zweifelte, dass Siggi Helmholtz allein auf sich gestellt den Überblick behielt, doch Bullerjahn bemühte sich, sie zu beruhigen.

„Der kriegt das hin! Wir haben schon so manches versucht, er duldet niemanden neben sich. Da ist es ihm sogar egal wenn er die ganze Nacht im Wald herumkrabbelt und mit den ersten Sonnenstrahlen seine Instrumente zusammenpackt. Er bettelt geradezu darum. Morgen Abend haben wir seinen Bericht."

Sie einigten sich darauf, Helmholtz eine Liste mit Wünschen dazulassen, die er bis morgen Früh abarbeiten sollte. Er verzog keine Miene als sie ihm die Liste hinhielten, ganz im Gegenteil, er freute sich, auch über die angebrochene Kekspackung, die Melinda ihm in die Hand drückte. Was war dieser Siggi doch für ein kauziger Wunderknabe!

Bullerjahn machte Anstalten zu gehen. Melinda war irritiert. Das war es schon? Zwar war Melinda erleichtert, diesen unseligen Ort verlassen zu dürfen, doch kam es ihr irgendwie falsch vor. Sollte eine Kommissarin sich nicht alles in Ruhe ansehen, sich hin und wieder bücken, etwas aufheben, die Stirn runzeln und am Ende einen ungewöhnlichen Gegenstand finden, etwa eine Brosche, eine seltene Münze oder zumindest den verdächtigen Stummel einer Zigarette, den die Spurensicherung übersehen hat? Nein, das hier hatte mit wirklicher Polizeiarbeit nichts zu tun.  Sie hätte es sich während ihres Reha-Aufenthaltes verkneifen sollen, jeden Sonntag mit Arndt den Tatort anzusehen.

Wenn alles glatt lief, würde Stellas Leichnam noch heute Nacht in die Rechtsmedizin nach Hannover überstellt werden. In zwei Tagen würde der Obduktionsbericht auf ihrem Schreibtisch liegen. Bis dahin gab es eine Menge für sie und Arndt zu tun. Sie mussten herausfinden, wer diese junge Frau gewesen war, mussten ihr Umfeld abklappern, Verwandte, Freunde, Liebhaber. Zuallererst mussten sie jedoch mit Gramberg reden. Allein konnte sie das unmöglich schaffen. Melinda zweifelte, dass Bullerjahn ihnen eine Hilfe sein würde. Bullerjahn, der jedem ungefragt von seiner Halbtagsstelle erzählte.

Sie brauchte Arndt. Er musste schleunigst gesund werden. Und dann stand ja morgen Früh noch das Gespräch mit Christiansen an, das sie schon fast vergessen hatte. Wie lange würde es wohl dauern bis die Kollegen von der Mordkommission hier waren? Hätten sie nicht schon längst hier sein müssen? Würden sie überhaupt kommen? Bullerjahn hatte mit Sicherheit Christiansen informiert. Waren sie und Bullerjahn bloß am Tatort gewesen, weil sie sich zufällig in der Nähe aufgehalten hatten? Melinda tat der Kopf weh. Merkwürdige Gedanken streckten ihre Fühler aus und begannen ihr durchs Hirn zu kriechen. War das hier ein Test? Möglich war das. Die junge Frau im Pilzkorb, bestimmt stand sie gerade auf während Melinda sich abwandte, klopfte sich die Robe aus und rieb sich die Schminke vom Gesicht, um danach mit Helmholtz ein Kaugummi zu kauen. Melinda versuchte, ihre wirren Ideen dorthin zurück zu schicken woher sie gekommen waren: in die dunkelsten Gefilde ihrer Hirnwindungen.

Offenbar spürte Bullerjahn wie unwohl ihr war. Mit sanftem Druck schob er sie zurück auf den schmalen Pfad, der sie zurück zur Forststraße führte. Am Wegesrand sah sie Dresslers Geländewagen stehen. Das Licht über dem Fahrersitz brannte. Der Herr Revierförster las in einem Buch. Den Titel konnte sie nicht erkennen. Im Kofferraum sah Melinda den Jagdhund sitzen, der sie mit freundlichen Augen musterte. Wie er wohl hieß? Ob er sich mit Zippo verstand? Sie zog sich am Ohrläppchen bis es schmerzte. Melinda Sieben, was sind das für Gedanken? Du träumst mit offenen Augen!

Jetzt legte Dressler das Buch zur Seite und öffnete die Tür. Trotz der späten Stunde sah er frisch und erholt aus. Melinda betrachtete seine Hände. Einen Ehering konnte sie nicht entdecken.

„Brauchen sie mich noch?"

Melinda hätte gern etwas geantwortet. Sie hätte ihm ein paar Gegenfragen stellen können: Kennen sie sich mit Gartenpflanzen aus? Können sie Obstbäume beschneiden? Essen sie gern vegetarisch? Darf ich ihren Hund streicheln? Können sie sich vorstellen, in einer Gartenlaube zu übernachten? Mit mir?

Bullerjahn sagte ihm, dass sie ihn für heute nicht mehr brauchten, er ruhig nach Hause fahren dürfe und sie ihm morgen einen Besuch abstatten würden. Diese Aufgabe wollte Melinda gern übernehmen. Dressler lächelte ihnen zu, zog die Tür wieder ins Schloss und startete den Motor. Dann wendete er den Wagen und rollte langsam die Forststraße hinunter. Melinda sah den Rücklichtern hinterher, zwei glühenden Monsteraugen in der Dunkelheit, bis sie hinter der Kurve verschwanden.

Es ging auf Mitternacht zu. Gramberg hatte sein Restaurant vorzeitig geschlossen. Jetzt saß er an einem Ecktisch im hintersten Teil des Gästesaals, vor sich einen kunstvoll verzierten Bierkrug, den er bereits zur Hälfte geleert hatte. Bullerjahn setzte sich neben ihn. Wie er Gramberg ansah, wie er ihn an der Schulter berührte, wie der zottelige Wirt darauf reagierte, zeigte Melinda wie vertraut die beiden Männer sich waren.

„Hat Dressler dich angerufen?"

Gramberg nickte und starrte in seinen Bierkrug.

„Woher wusste er, dass es Stella ist?"

Langes Schweigen. Eine gefühlte Ewigkeit.

Grambergs rieb sich ein paar Tränen aus den Augen und fuhr sich mit der Hand über den Bart.

„Sie war schon seit einer Woche nicht mehr hier."

Bullerjahn sah zu Melinda herüber.

„Warum hast du nicht angerufen?"

Wieder Schweigen.

Dann: „Ich will ins Bett! Schlafen! Bin hundemüde. Langer Tag!"

Melinda betrachtete Grambergs rot unterlaufene Augen, sein verstrubbeltes Haar, seine ungesunde Hautfarbe.

Sie dachte: „Der will nicht schlafen. Der will sich einsam und allein das Gewehr in den Mund schieben und abdrücken!"

Dann dachte sie wieder an Arndt, der mit Fieber in seinem Bett lag. Sie dachte an Zippo, der den Wandersmann hatte vertreiben wollen, an Dressler, der jetzt vermutlich in seinem Sessel vor dem Kamin saß und darüber nachdachte, was für ein interessantes Persönchen diese Kommissarin Sieben doch war.

Wann würde sie den Wandersmann treffen? Wo würden sie sich zum ersten Mal begegnen?  Welchen nächsten Hinweis würde er für sie haben?

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt