68 Mit sechs Jahren war das Leben noch einfach

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Bei ihm angekommen, zog er mich schnell an sich und umarmte mich fest. Das schmerzvolle Stöhnen entging mir dabei keinesfalls. Ich wollte mich lösen, doch er hielt mich weiter fest. Die Erkenntnis ließ mich noch mehr weinen. Ich hatte meinen Bruder wieder.

"Du lebst.", schluchzte ich und vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge. "Natürlich lebe ich. Ich habe auch gelebt, als du mich mit dem Aufbau und der Struktur von Proteinen vollgelabert hast. Von den Enzymen will ich gar nicht erst anfangen." Ich konnte nichts erwidern, sondern musste viel stärker weinen.
"Hey, ist doch alles gut. Ich wusste gar nicht, dass du so gefühlsduselig geworden bist." Sofort musste ich an mein erstes Gespräch mit ihm denken. Da hatte ich mir auch vorgestellt, dass er mich gefühlsduselig nennen würde. "Ich bin nur erleichtert, weil ich mir Sorgen gemacht habe, du Schwachkopf." Er wollte etwas erwidern, als uns Doktor Banks unterbrach. 

"Tut mir leid, dass ich Sie unterbrechen muss, aber ich hätte ein paar Fragen." Ich löste mich von ihm und gab somit Elias den Blick auf Tyler frei. "Guten Tag. Oder eher gesagt gute Nacht. Ich bin Doktor Banks und ich habe sie operiert und im  Koma betreut." Tyler sah mich fragend an. Er mochte keine Ärzte. Einen Grund dafür gab es nicht, es war mehr so ein Bauchgefühl das er immer misstrauisch gegenüber ihnen blieb. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie kurz. "Er ist okay.", flüsterte ich.

Dann drehte ich mich zu Elias um. "Er ist misstrauisch gegenüber Ärzten. Nimms ihm nicht übel." Elias nickte und wandte sich wieder meinem Bruder zu. "Wissen Sie noch genau was passiert ist?" Tyler schien einen Moment zu überlegen, bevor sich seine Hand um meine verkrampfte. "Mary! Geht es ihr gut? Wo ist sie?" Der Arzt, dessen Name ich nicht kannte, machte Anstalten zu antworten, doch ich kam ihm zuvor. "Sie hat dich bis heute Mittag immer nur für ein paar Stunden alleine gelassen. Du lagst über eine Woche im Koma und sie hat jede verdammte Nacht auf dem unbequemen Sessel verbracht. Es hat echt viel Überredungskraft gekostet, dass sie endlich mal eine Nacht zuhause schlief." Ein verliebter Ausdruck tauchte auf seinem Gesicht auf und seine Hand entspannte sich allmählich. "Wie geht es ihr denn? Hat sie es auch so schlimm erwischt?" Wieder kam ich dem Arzt zuvor, doch er schien von meinen Antworten keinesfalls genervt zu sein. Höchstens belustigt. "Nein, sie hatte nur ein paar Schürfwunden an den Armen und Beinen. Sie meinte, dass sie verdammt weich gelandet ist. Muss doch etwas gutes haben, so fett zu sein wie du es bist." Er lächelte mich erleichtert an und ich erwiderte sein Lächeln breit.

"Es könnte sein, dass Sie sich noch nicht an alles erinnern. Offensichtlich können Sie sich wieder an den Unfall erinnern, dennoch könnten Ihnen ein paar andere Erinnerungen entfallen sein. Aber keine Sorge, die kommen bald wieder. Für gewöhnlich schließen sich die Erinnerungslücken mit der Zeit. Falls dies nicht sein sollte, sollten Sie umgehend einen Arzt aufsuchen oder bestens Falls wieder zu uns kommen. Sicher ist sicher." Tyler nickte gehorsam, doch ich merkte, dass er nicht ganz bei der Sache war. 

Nachdem die Ärzte noch ein paar Untersuchungen gemacht hatten, verabschiedeten sie sich und verschwanden. Doch bevor Elias aus der Tür war, hielt ich ihn auf. "Dürfte unsere Familie kommen? Ich weiß, es ist keine Besuchszeit, aber wenn ich es ihnen erzählen, wollen sie bestimmt sofort zu ihm und wenn ich bis morgen früh warte mit der Neuigkeit, dann würden sie mich lynchen." Banks schaute mich belustigt an. "Das wollen wir natürlich nicht. Ich sage unten an der Rezeption Bescheid, dass sie eure Familie hier hochlassen." Ich nickte ihm dankbar zu, bevor auch er aus dem Zimmer verschwand. "Du siehst nicht besonders ausgeschlafen aus.", bemerkte Tyler. "Kann ich von dir nicht behaupten.", erwiderte ich. "Wie witzig. Nein, aber jetzt mal im Ernst, was ist los? Habe ich irgendwie dein Abi verschlafen und du bist durchgefallen?" "Du warst nur eine Woche im Koma und nicht ein Jahr." Wir grinsten uns einen Moment an, bevor er wieder ernst wurde.

"Jetzt erzähl schon. Was ist los?" "Wenn du wirklich die Gespräche mitbekommen hast, dann weißt du es bereits. Dieses Gespräch war sogar der Grund, weshalb du einmal versucht hast, aufzuwachen. Hatte aber nicht funktioniert. Der Gedanke, dass ich in einem Albtraum liege oder besser gesagt meine Schreie haben dich dann wohl letzten Endes wieder ganz zur Besinnung gebracht." Er legte die Stirn in Falten und fuhr sich mit der linken Hand durch seine hellbraunen Haare. Die andere Hand hielt ich immer noch gefangen in meinen. Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis sich seine Hand verkrampfte. 

Badboy's DevilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt