21| Für Immer

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Die folgenden Wochen und Monate stellte Luzifer seinem Vater immer und immer wieder dieselbe Frage, ohne je eine Antwort darauf zu erhalten. Das Verhältnis zwischen ihnen wurde immer angespannter, was auch den anderen Engeln nicht verborgen blieb.

Luzifer saß, wie so oft in der letzten Zeit, im Garten Eden. Der Ort hatte noch immer eine beruhigende Wirkung auf ihn, die Anwesenheit von Deimos, der neben ihm lag und die Augen geschlossen hatte, tat sein Übriges. Der oberste Engel lehnte gegen den Körper des Drachen und hatte sein kleines Buch offen auf seinen Knien liegen. Ein Plan hatte sich in seinem Kopf manifestiert, den er nun niederschrieb. Er wusste, dass er diesen in die Tat umsetzen musste, egal wie es dabei für ihn ausging. Er musste es einfach tun. Luzifer dachte an Michael und sein Blick bekam etwas Trauriges. Er wollte ihn da nicht mit hineinziehen, aber er hatte wohl keine andere Wahl. Seit einiger Zeit fragte er sich schon, ob alles, was geschah, vorherbestimmt war und inwieweit man sein eigenes Schicksal in der Hand hatte. Plötzlich erinnerte er sich wieder an Asmodeus' Worte und musste schmunzeln.

"Ihr könnt einfach nicht aufhören Fragen zu stellen, nicht wahr?"

Scheinbar bekam er es tatsächlich nicht hin, seinen Kopf einfach mal auszuschalten, wenngleich es für seinen Gemütszustand wohl besser wäre. Eine Sache, in der er sich anscheinend nie ändern würde. Während er da saß und gedankenverloren in den See vor ihm starrte, spürte er jemanden näher kommen. Luzifer schloss sein Buch, packte es weg und wartete. Er wusste genau, was jetzt folgen würde. Ein Gespräch, das schon mehr als überfällig war und vor dem er sich bisher erfolgreich gedrückt hatte. Nun war er aber dafür bereit, er war sich bewusst, dass er es ihm schuldig war.

Michael ging derweil vorsichtig auf Luzifer zu. Er war sicher, dass sein Bruder sich wieder einfach so in Luft auflösen würde, bevor er ihn erreicht hatte, so wie er es auch die letzten Male getan hatte. Doch als er den See erreichte und sich neben ihm niederließ, war Luzifer noch immer da. Es verwunderte Michael und freute ihn gleichzeitig auch. Sie saßen schweigend zusammen. Nur das leise Atmen von Deimos war zu hören. Trotz der Umstände wirkte dieser Moment vollkommen friedlich, was beiden Brüdern sichtlich gut tat.

»Luz?«, durchbrach Michael schließlich das Schweigen. Luzifer brummte darauf nur leise. »Wieso?«, war alles, was er fragte.

Luzifer schwieg lange. Er wusste, worauf Michael hinaus wollte, wusste aber nicht, wie er es ihm erklären sollte. Für Engel, die nicht seine Beobachtungen gemacht haben, waren seine Ansichten sicher schwer nachzuvollziehen. Luzifer musste seine Worte mit Bedacht wählen. Sein jüngerer Bruder glaubte fast schon, gar keine Antwort zu bekommen, bis er doch noch etwas erwiderte. »Weil es wichtig ist. Nicht nur für mich, sondern für uns alle. Es mag sein, dass der freie Wille nur eine Illusion ist, aber Tatsache bleibt, dass Menschen, Götter und sogar Dämonen in ihren Handlungen freier sind als wir.«

»Und du willst um jeden Preis wissen, warum das so ist«, schloss Michael seufzend.

»Nein, ich kenne den Grund. Ich will es nur von ihm hören. Nur einmal soll er gefälligst ehrlich sein und zugeben, dass er uns einfach nur unter Kontrolle halten will.«

Michael blickte Luzifer mit weit aufgerissen Augen an. »Du glaubst wirklich, dass das der Grund ist?«, wollte er ungläubig wissen.

»Welchen Grund sollte er sonst haben?«, stellte der oberste Engel die Gegenfrage, worauf Michael auch keine Antwort wusste. »Es gibt vieles, dass uns verwehrt bleibt. Dinge, die wir nicht einmal anstreben können, weil wir das Verlangen danach gar nicht erst spüren.«

»Du meinst sowas wie fleischliche Lust?«, hakte Michael nach, was sein Bruder bejahte.

»In meiner Zeit unter den Menschen habe ich auch viele Sinneseindrücke bekommen. Unter anderem Lust, aber auch, und das ist der ausschlaggebende Punkt, weshalb ich das alles mache, Liebe zwischen zwei Seelen. Eine so tiefe und reine Liebe, wie kein Engel sie jemals gespürt hat. Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich finde, dass auch Engel ein Recht auf solch ein vollkommenes Glück haben.«

Michael schwieg. Er dachte über die Worte seines Bruders nach. Auch wenn er nicht wusste, von welcher Art Liebe Luzifer sprach, beziehungsweise wie sich diese anfühlen sollte, doch wenn er dafür bereit war zu kämpfen, musste es etwas Wundervolles sein. In diesem Punkt war sich Michael sicher. »Ich habe dennoch ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache«, meinte er daher.

»Zu recht«, erwiderte Luzifer, was die Angst, die Michael spürte, nur noch verstärkte. »Auch wenn das, was ich vorhabe, uns beiden viel Schmerz bringen wird, so muss ich es doch tun und ich hoffe, dass du es eines Tages verstehen wirst«, sprach Luzifer, während er sich erhob. »Und egal, wie diese Sache ausgehen wird, möchte ich, dass du weißt, dass wir immer Brüder sein werden und ich immer für dich da bin.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging davon.

»Luz«, flüsterte Michael leise und voller Schmerz. Seine Stimme brach und die Angst in ihm wurde beinah übermächtig und drohte ihn innerlich zu zerreißen. Was hatte Luzifer vor, fragte er sich unwillkürlich. Es musste etwas Schlimmes sein, dessen war er sich mehr als sicher. Was sollte er nun tun? Einfach abwarten und sehen was passiert oder versuchen Luzifer aufzuhalten? Letzteres erschien ihm ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Wenn sein Bruder sich einmal was in den Kopf gesetzt hatte, war er davon nicht mehr abzubringen. »Was soll ich bloß tun?«, sprach er die Frage laut aus.

»Du kannst nichts tun«, erhob Deimos erstmals seine Stimme, was Michael zusammenzucken ließ. Er war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass der Drache bei ihm geblieben war. »Luzifer wird sich nicht abbringen lassen. Er weiß genau was er tut und ist sich der Konsequenzen, die seine Taten haben, mehr als bewusst. Dennoch ist er bereit dies in Kauf zu nehmen.«

»Hat er Recht?«, wollte Michael dann wissen. »Will mein Vater uns nur kontrollieren?«

Der Drache blickte ihn nachdenklich an. »Tatsache ist, dass jeder von euch gezwungen ist, dem Befehl Gottes zu gehorchen, dagegen könnt ihr euch nicht wehren, selbst wenn ihr es wolltet. Luzifer und Azrael waren in diesem Punkt schon immer eine Ausnahme. Azrael, weil er als Todesengel nicht direkt Gott untersteht und Luzifer, weil er seine erste und mächtigste Schöpfung war. Dennoch bleiben auch ihnen Dinge verwehrt, Luzifer sogar mehr als Azrael. Die Überlegung, dass Gott euch nur kontrollieren will, ist also gar nicht so abwegig.« Deimos hielt einen kurzen Moment inne, ehe er fortfuhr. »Allerdings muss ich zugeben, dass Luzifer sich durchaus verändert hat, nicht nur in seinem Denken, sondern auch in seinem Handeln. Und eines solltest du dir immer bewusst sein. Was dein Bruder tut, tut er aus voller Überzeugung und für die Rechte aller Engel. Für ihn ist der Weg, den er gewählt hat, der einzig richtige und wahrscheinlich hat er damit sogar Recht.«

Michael hatte Deimos aufmerksam gelauscht. Er hatte den Eindruck, dass der Drache den obersten Engel dafür bewunderte. Deimos breitete seine Flügel aus und hob vom Boden ab, nachdem er sich verabschiedet hatte. Der Erzengel blieb noch eine Weile sitzen und versuchte die spirituelle Ruhe dieses Ortes auf sich wirken zu lassen, um seinen Gemütszustand zu beruhigen. Jedoch gelang es ihm mehr schlecht als recht. Zum ersten Mal in seiner Existenz fürchtete er sich um die Zukunft, aber eines war er sich genauso sicher wie Luzifer. Sie würden immer miteinander verbunden bleiben, egal wohin ihre Wege sie auch führen würden, sie waren Brüder für alle Ewigkeit.

Chroniken der Erzengel (Sammelband) Where stories live. Discover now