10| Schicksal

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Luzifer beobachtete Senara während sie schlief. Ihm blieb auf der Erde nicht mehr viel Zeit, da die Hälfte der sechs Monate schon um war. Er musste schleunigst eine Familie für die Kleine finden und hoffte, dass er in dieser Stadt fündig wurde. Doch es fiel ihm jetzt noch viel schwerer als zuvor, sie allein zurücklassen zu müssen. Der Erzengel wusste ganz genau, was es mit dem eisigen Windhauch auf sich hatte. Es war der Hauch des Todes gewesen. Leider wusste er nicht, welchem Menschen dieser gegolten hatte. Das Mysterium des Todes oblag einzig und allein den Todesengeln. Nur ihnen und dem Tod selbst war es vergönnt die Seelenmelodie zu vernehmen. Laut Azrael soll dies der schönste aller Klänge sein.

Ein ungutes Gefühl weckte in ihm die Sorge, dass es Senara treffen könne. Vielleicht war es auch nur seine Angst, sie zu verlieren. Noch nie hatte er so etwas wie Verlust gespürt und er wollte dies auch nie spüren müssen. Wenngleich er doch wusste, dass sie nicht ewig leben würde. Ewigkeit war den Menschen einfach nicht bestimmt. Jedoch konnte Luzifer sich auch nicht vorstellen, dass Senara auf der Liste des Todes stand. Immerhin war sie doch noch so jung und hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Er wandte sich von ihr ab und blickte zum Fenster hinaus.

Während er besorgt die wenigen Menschen beobachtete, die zu dieser späten Stunde noch unterwegs waren, spürte er hinter sich eine Präsenz auftauchen. Luzifer drehte sich nicht um, er wollte nicht mit ihm reden. Der ungebetene Besucher spürte dies, dennoch sprach er ihn an. »Ich weiß, was dich quält, Luzifer. Und ich weiß auch, dass du keine Lust hast mit mir zu reden. Ehrlich gesagt würde es mir schon reichen, wenn du mir zuhörst. Ich habe dich mit ihr am Fluss gesehen, ich weiß, wie wichtig sie dir ist, was ich doch sehr erstaunlich finde. Du brauchst dir aber keine Sorgen zu machen, ihr Name steht nicht auf der Liste.«

»Wegen wem war der Tod dann da?«, wollte Luzifer wissen, ohne Azrael anzusehen.

»Ihr wart nicht allein am Fluss, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Es liegt irgendetwas in der Luft, dass..«

»Ich weiß, ich habe es selbst schon gespürt«, unterbrach der oberste Engel seinen Bruder.

»Der Tod hat eine kryptische Andeutung gemacht«, erklärte Azrael, ehe er dessen Worte wiederholte. Nun drehte Luzifer sich doch zum Erzengel des Todes um. Nachdenklich schaute er ihn an. Er wusste, was es mit den Fäden des Schicksals auf sich hatte. Sie wurden von den drei Schicksalsgöttinnen gesponnen. Nur sie allein kannten das Schicksal jedes einzelnen Wesens, doch mischten sie sich nie aktiv ein. »Ich habe das Gefühl, dass es mit dir zu tun hat.«

Die Worte seines Bruders rissen Luzifer überrascht aus seinen Gedanken. »Du glaubst, dass ich für die bevorstehende Veränderung sorgen werde?«

»Wäre das wirklich so abwegig?«

Eine simple Frage, die Luzifer zum Grübeln brachte. Er drehte sich wieder um und schaute hinaus. Der oberste Engel spürte, dass Azrael ihm etwas verschwieg. Aber er fragte ihn nicht danach, vermutlich wäre es dem Todesengel ohnehin verboten darüber zu sprechen. Das ungute Gefühl in ihm wurde immer stärker. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er nur am Rande mitbekam, wie Azrael verschwand.

Die ganze Nacht blieb er dort stehen. Sein Blick glitt zum Horizont, wo sich bereits der Tag ankündigte. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die Stadt herab. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Auch im Bett hinter ihm regte sich etwas. Senara wurde wach und rieb sich müde die Augen. Luzifer legte sich neben sie und nahm sie lächelnd in den Arm. So aneinander gekuschelt blieben sie noch eine Weile liegen, bis ihr Magenknurren ihn dazu veranlasste aufzustehen, um ihr was zu essen zu holen. Der Engel sah ihr dabei zu, wie sie das Brot und die Früchte verschlang.

Nachdem sie aufgegessen hatte, wusch sie sich mit dem Wasser, dass Luzifer bereits für sie bereitgestellt hatte. Anschließend gingen sie gemeinsam in der Stadt spazieren. Irgendwann blieb er stehen und lehnte sich an eine Hauswand. Je länger er die Menschen in ihrem alltäglichen Treiben beobachtete, umso mehr wurde ihm bewusst, wie sehr sie sich von seinesgleichen unterschieden. Trotz der unter den Menschen war ihm noch immer nicht klar geworden, warum sein Vater großes Interesse an ihnen hatte.

Als er mit Senara weitergehen wollte, stutzte er. Das kleine Mädchen war nicht mehr neben ihm. Hastig sah er sich um, doch er konnte sie nirgends entdecken. Wo konnte sie nur hin sein, fragte er sich. Er lief die breite Straße hin und her, suchte jeden noch so kleinen Winkel ab, aber Senara blieb verschwunden. Luzifer suchte in der ganzen Stadt nach ihr. Seine Bemühungen verliefen im Sand. Er konnte nicht einmal mehr ihre Aura spüren, was ihn irritierte. Allmählich wandelte sich seine Sorge um sie in Panik. Wenn er doch nicht so in Gedanken gewesen wäre, wäre sie sicher nicht verschwunden. Er hielt kurz inne, um sich wieder zu sammeln und zu konzentrieren.

Dass er ihre Ausstrahlung nicht aufspüren konnte, konnte nur eines bedeuten. Senara befand sich in der Gegenwart eines nichtmenschlichen Wesens. Die Frage war nur, ob es ein Engel oder ein Dämon war. Er konnte zwar auch in der Richtung nichts spüren, aber das hatte nichts zu bedeuten. Immerhin waren Engel und Dämonen in der Lage ihre Aura zu verbergen. Luzifer lief aus der Stadt heraus und suchte nun außerhalb nach dem Mädchen.

Dann endlich fand er sie. Ein paar Meter außerhalb der Stadt stand sie auf einer Wiese, im Schatten eines Orangenbaums. Senara war tatsächlich nicht allein. Aber der ältere Mann, der bei ihr war, schien nichts Übernatürliches an sich zu haben. Im Gegenteil. Der Mann schien sehr krank zu sein, der Odem des Todes haftete an ihm. Als Luzifer dann sah, was das Mädchen in der Hand hielt, wurde ihm mit einem Schlag etwas bewusst. Es war ein Amulett, ein ganz besonderes sogar. Dieser Gegenstand hatte dafür gesorgt, dass er sie nicht wahrnehmen konnte. Ein Wort fraß sich in seine Gedanken, ehe der Mann sich plötzlich in Luft auflöste. Im selben Augenblick ertönte ein Grollen von oben herab und Senara ging wie vom Blitz getroffen zu Boden, wo sie regungslos liegen blieb. Sofort eilte Luzifer zu ihr. Nun wusste er, was Azrael ihm verschwiegen hatte.

»Schicksal«, hauchte der Erzengel das Wort, dass ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Ein Wort, das ihm die Erkenntnis gebracht hatte. Erkenntnis darüber, warum Senara so etwas besonders war.

Einige Bauern, die gerade auf ihren Feldern arbeiteten, hatten den Donner gehört und in ihrer Tätigkeit inne gehalten. Als sie sahen, wie das Mädchen zu Boden ging, eilten sie herbei und stellten sich in einem Kreis um Senara und Luzifer herum auf. Dem Engel war dies jedoch egal, seine ganze Aufmerksamkeit galt der kleinen in seinen Armen.

Chroniken der Erzengel (Sammelband) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt