12| Zu Viele Fragen

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Stundenlang liefen sie, wobei Luzifer und Asmodeus Senara immer mal wieder tragen mussten. Sie befanden sich nun in einem Wald auf einer Lichtung. Über ihnen funkelten die Sterne. Das Lagerfeuer knisterte fröhlich vor sich hin, während es eine wohlige Wärme ausstrahlte. Luzifer lehnte gegen einen Baumstamm und dachte nach. Viele Fragen kreisten in seinem Kopf herum. Er versuchte einen Zusammenhang zwischen Senara und der Anspannung, die immer deutlicher zu spüren war, zu finden. Dazu kam noch die kryptische Andeutung des Todes. Der Erzengel war sich sicher, dass es zwischen alledem eine Verbindung gab. Es war sicher auch kein Zufall, dass er Senara begegnet war.

Wenigstens brauchte er sich nun keine Gedanken mehr darüber zu machen, was aus dem Mädchen werden sollte, wenn er wieder in den Himmel zurück musste. Denn der Ort, zu dem sie unterwegs waren, war ein sicherer und heiliger Ort. Einer, der unter dem Schutz der Götter stand. Soweit Luzifer wusste, soll er sich versteckt tief im Inneren einer Höhle befinden. Wobei es auch Quellen gab, die davon sprachen, der Ort sei hinter einem Wasserfall verborgen. Luzifer war schon sehr gespannt darauf, welche Aussage wohl zutraf. Er selbst hatte diesen noch nie betreten. Wozu auch, war er doch nie auf die Hilfe oder den Rat des Orakels angewiesen gewesen. Allerdings würde sich das nun wohl ändern, dachte er, während sein Blick auf Senara fiel, die friedlich schlief.

Asmodeus beobachtete Luzifer heimlich durch die Flammen. Er bemerkte, dass den Engel etwas beschäftigte. Den ganzen Tag über war er schon still und in sich gekehrt gewesen. »Was beschäftigt Euch so sehr?«, brach der Erzdämon schließlich das Schweigen, darauf bedacht, das kleine Mädchen nicht zu wecken.

»Ich versuche nur das Ganze zu verstehen«, erwiderte der Engel.

»Das werdet Ihr kaum können. Es gibt nur sehr wenige Wesen, die in der Lage sind, das große Ganze zu sehen. Und wir beide gehören sicher nicht dazu. Uns bleibt nichts, als abzuwarten.«

Luzifer wusste, dass Asmodeus recht hatte. Dennoch gefiel ihm das nicht. Er war einfach nicht dafür gemacht untätig herumzusitzen und Däumchen zu drehen. Aber in diesem Fall blieb ihm nichts anderes übrig. Der Erzengel seufzte frustriert. »Was meint Ihr, wann ihre Gabe erwacht?«, fragte er den Dämon, um sich ein wenig von den trüben Gedanken abzulenken.

»Ich schätze, je näher wir dem Ort kommen, umso stärker wird sie zum Vorschein kommen«, erwiderte Asmodeus. »Das scheint aber nicht alles zu sein, was Euch beschäftigt.«

Überrascht blickte Luzifer den Erzdämon an. Es stimmte, was er sagte. Doch wie konnte er das wissen? Hatte der Dämon einfach ein besonderes Gespür dafür? Wieder Fragen, auf die er keine Antwort fand. Vielleicht sollte ich mal eine Liste machen, dachte er bei sich. Luzifer überlegte lange, ob er Asmodeus davon erzählen sollte. Doch eigentlich gab es nichts, was dagegen sprach, wie er sich eingestehen musste. »Mir ist unter den Menschen etwas aufgefallen. Etwas in ihrem Handeln und Denken«, begann er zögerlich. Der Erzdämon schaute ihn mit einem durchdringenden Blick an, schwieg jedoch. »Sie scheinen etwas zu besitzen, dass uns Engeln schon seit jeher verwehrt bleibt. Ich frage mich wieso.«

»Ich nehme an, Ihr sprecht vom freien Willen, nicht wahr?« Als Luzifer darauf nickte, fuhr Asmodeus fort. »Warum ihr Engel einen solchen nicht besitzt, kann ich Euch auch nicht beantworten. Aber bei den Menschen ist der auch nicht wirklich vollkommen frei. Nicht mal wir Dämonen sind vollkommen uneingeschränkt. Es stimmt schon, dass wir grundsätzlich alles tun können, was wir wollen. Doch jedes Wesen wird in seinem Handeln und Denken durch äußere Einflüsse geprägt. Familie, gesellschaftliche Beziehungen und eigene Erfahrungen fließen dort mit ein. Das alles formt einen jeden von uns und beeinflusst so unser Handeln und Denken.«

Luzifer dachte lange über diese Worte nach. Er musste zugeben, dass dies durchaus Sinn ergab. Allerdings fragte er sich, wie sich jemand ohne diese Einflüsse entwickeln würde und schalt sich selbst dafür. Denn so etwas war unmöglich. Wenn man jemanden davon befreien wollte, müsste man diesen wohl in Isolation stecken. Und das wäre unweigerlich wieder ein äußerer Einfluss. Wäre Luzifer kein Engel, so würde er wohl spätestens jetzt Kopfschmerzen von all den Gedankengängen bekommen.

Asmodeus betrachtete den Erzengel amüsiert. Er konnte förmlich das Rattern in dessen Kopf hören. Eine Frage brannte ihm jedoch noch auf der Zunge. Der Erzdämon hatte den Eindruck, dass Luzifer, zumindest was sein Denken anging, auch frei war. Denn Asmodeus bezweifelte, dass ein Engel sonst zu solchen Gedanken fähig wäre, immerhin hatte er Gott mit seiner Aussage vorhin doch quasi infrage gestellt. Der Erzdämon beschloss Luzifer einfach danach zu fragen.

Der Erzengel bestätigte, dass er und seine Geschwister durchaus freier in ihrem Handeln und Denken waren, als andere Engel. Allerdings waren auch sie eingeschränkt. Es gab Dinge, die sie einfach nicht tun konnten, selbst wenn sie es wollen würden. Dies waren jedoch meist Sachen, nach denen sie ohnehin kein Verlangen spüren konnten. Dazu gehörten auch sexuelle Lust oder allgemein kein Bedürfnis nach intimer Zweisamkeit. Und wenn Gott ihnen etwas befahl, so mussten sie dies ausführen, ob sie wollten oder nicht.

Der Dämon hörte Luzifer fassungslos zu. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, so zu leben. Wenn man das überhaupt als Leben bezeichnen konnte. Doch für die Engel musste das vollkommen normal sein, sie kannten ja nichts anderes. An Luzifers Stimmlage erkannte er jedoch, dass er diesen Umstand alles andere als gut fand. Der Erzengel fing an Gott zu hinterfragen. Asmodeus betrachtete ihn nachdenklich. Hatte er am Ende doch recht mit seiner Vermutung? War Luzifer tatsächlich für die bevorstehende Veränderung verantwortlich? Ausschließen konnte der Erzdämon es nicht mehr. Hinzu kam, dass er auch noch immer nicht herausgefunden hatte, was genau passieren würde. Und dies ging ihm mehr auf die Hörner, als er zugeben wollte.

Schweigend saßen sie dort, in ihren eigenen Gedanken versunken. Die Feuerstelle glühte inzwischen nur noch leicht. Die ersten Sonnenstrahlen kündigten bereits den Morgen an, was die Bewohner des Waldes aus ihren Bauten herauslockte. Überall hörte man ein Rascheln und Knacken im Unterholz. Luzifer lauschte den Klängen und versuchte einen Blick auf das eine oder andere Tier zu erhaschen. Er bemerkte ein Reh, vielleicht gerade mal 7 Meter von ihm entfernt. Es schaute ihn wachsam an. Irgendetwas an seinen braunen Augen faszinierte den Engel. Sie wirkten so klar und gütig. Das Reh machte Anstalten sich ihm zu nähern, doch genau in dem Augenblick erhob sich Asmodeus nicht gerade leise und das Reh sprang davon.

»Was ist?«, wollte der Erzdämon wissen, als Luzifer ihn plötzlich böse ansah.

»Du hast es verjagt«, kam es von Luzifer, was den Dämon nur verwirrt schauen ließ. »Da vorne war ein Reh und du hast es erschreckt«, erklärte er dann.

»Schade, wäre bestimmt ein Leckerbissen gewesen«, erwiderte Asmodeus lapidar und lächelte den Engel süffisant an, der ihn nur empört ansah.

Gerne hätte Luzifer etwas erwidert, aber er beließ es einfach dabei. Er hatte keine Lust sich zu streiten. Stattdessen ging er rüber zu Senara, um sie sanft zu wecken. Verschlafen rieb sie sich ihre Äuglein. Er gab ihr ein paar Beeren zu essen, die sie bereits am Vortag gepflückt hatten. Nachdem die Kleine ihren Magen gefüllt hatte, setzen sie ihren Weg fort.

Chroniken der Erzengel (Sammelband) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt