Kapitel 4

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„Ich habe dein kindisches Verhalten satt!“, motzte Berat.
„Aha. Du hast mich also satt, wie?“
„Da, schon wieder. Du verdrehst mir die Worte im Mund.“

Ich warf den Koffer auf das Bett und fing an, ein paar Klamotten hineinzuwerfen.

„Mit Auszeit meine ich, dass du dir ein paar Tage Urlaub nehmen sollst.“
„Das tu ich jetzt auch. Ich nehme mir Urlaub. Von deiner Mutter und dir“, erwiderte ich schroff.

Von dieser Hölle, in der ich seit Monaten lebe, von deinem respektlosen Bruder, und dieser scheußlichen Wohnung, in der ich zu ersticken drohe, dachte ich mir. Ich klappte den Koffer zu, und stieß einen Schrei aus, als ich ihn vom Bett zog. Meine Rippe schmerzte höllisch.

„Scheiße. Scheiße!“, fluchte ich.
„Was hast du?“

Ich schwankte, stütze ich mich an Berats Arm, um nicht hinzufallen. Mir stieg sein Duft in die Nase. Es war, als hätte ich ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr gerochen. Mit meinen flachen Atemzügen füllte ich meine Lungen mit Sauerstoff, welches sich mit Berats Duft vermischt hatte. Wie nach einem Rauschmittel Konsum schoss eine angenehme Wärme durch meinen Körper und füllte mich mit Leben. Der Schmerz war in den Hintergrund gerückt. Berats plötzliche Nähe löste etwas in mir aus. Meine verloren geglaubten Gefühle?

„Geht es wieder?“, fragte er.

Ich fand seinen Blick und versuchte diesen zu entschlüsseln. Was dachte er? Was fühlte er?

Ich verlief mich wie in einem Labyrinth. Ich suchte und suchte. Dann blieb ich stehen, hielt inne. Ratlos, verwirrt, verzweifelt. Ohne Ausgang.

Ich ließ von ihn, suchte Halt auf meinen wackeligen Knien. Erneut griff ich nach dem Koffer, ließ ihn diesmal jedoch auf seinen Rädern rollen und zog ihn in den Flur.

Wieso hielt er mich nicht auf? Wieso nahm er mich nicht in die Arme? Wieso kämpfte er nicht um mich? Ein Kuss, ein 'Ich liebe dich', ein 'Bitte bleib'. Es hätte gereicht. Es hätte wirklich gereicht! Wie konnte er mich einfach so gehen lassen?

Meine Schwiegermutter trat in den Flur und sah mich an. Ihr Blick, ihre Haltung, das Zucken ihrer Mundwinkel - alles an ihr drückte Schadenfreude aus. Ich verkniff mir eine Bemerkung und ging kopfschüttelnd an ihr vorbei. Ich nahm meinen Autoschlüssel, der an der Wand hing und öffnete die Wohnungstür. Und dann war ich weg …

Es war bereits später Abend, als Rebecca endlich die letzten Stufen zu ihrer Wohnung nahm. Sie bemerkte mich und sah mich, halb schockiert, halb verwirrt, an. Dann warf sie einen Blick auf den Koffer neben mir und schlug sich die Hand vor dem Mund.

„Oh Gott, du hast es getan! Du hast ihn verlassen!“

Sie sprach das aus, was mir seit Stunden, in denen ich hier auf dem Treppenabsatz saß, durch den Kopf jagte. Es aus dem Mund eines anderen zu hören klang surreal. Aber ich hatte es getan. Und erstaunlicherweise fühlte ich mich .. frei. Ja, frei. Gut, wäre hier nicht das richtige Wort. Es war Erleichterung, endlich den Mut gefunden zu haben.

Ich stand auf, hob jedoch abwehrend meine Hände, als Rebecca mich umarmen wollte.

„Stopp! Ich bin krank, mag dich nicht anstecken“, sagte ich schnell.

„Krank?“

Ich nickte, hob meinen Top an und entblößte die Pads, die mir um den Brustkorb geklebt wurden. Nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, war ich direkt zum Arzt gefahren. Die Diagnose war ein wenig niederschmetternd, obwohl ich es geahnt hatte. Sechs Wochen schonen und Schmerzmittel schlucken – das klang nicht gerade verlockend.

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