Kapitel 9

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Ich hatte ihn vergessen. Ich hatte diese Nacht vergessen! Doch als ich in seine dunklen Augen sah, wurde mir bewusst, dass ich es lediglich verdrängt hatte. War es die Müdigkeit oder der Schock, der mich zur Seite schwanken ließ, sodass ich mich am Geländer festhalten musste? Ich weiß es nicht.

„Liebling, das ist Loriks Gruppenleiterin und gleichzeitig unsere Nachbarin. Ist das nicht toll?“

Ist das nicht toll? Ja, so toll. Wirklich hervorragend. Wunderbar. Fantastisch. Es kann doch gar nicht toller sein, dachte ich mir. Um Gottes Willen, ich musste die Fassung bewahren. Aber wie zur Hölle sollte das gehen, wenn diese Augen mich förmlich durchbohrten?

„Kennt ihr beiden euch?“, fragte Lynn plötzlich.

Sie schien etwas bemerkt zu haben. Auch das noch! Ich nahm kurz Luft und setzte an, um die Frage zu verneinen, als er auf einmal das Wort ergriff.

„Ja.“

Was zum? War er komplett verrückt geworden? Meine Eingeweide zogen sich zusammen und mein Kopf drohte zu explodieren. Ich schluckte schwer, schob das Gefühl der aufkommenden Ohnmacht beiseite und versuchte mich zu konzentrieren.

Lynn wechselte einen neugierigen Blick zwischen ihrem Mann und mir. Was nun? Tu was, du Idiot. Bügel deine Dummheit wieder aus, na los!, dachte ich mir. Und das tat er dann auch.

„Also kennen eigentlich nicht, aber wir haben uns vor einer Weile auf dem Friedhof gesehen. Stimmt doch, Frau -“

Er stoppe, warf einen Blick auf die Klingel.

„Shabani oder Salihi?“, fragte er.
„Beides.“ 

Er lächelte. Wieso tat er das? Himmel, wieso war er hier? Er sollte verschwinden!

„Doppelnachname?“, schaltete Lynn sich wieder ein.
„Nein. Shabani ist mein Mädchenname und wir .. wir sind Standesamtlich noch nicht verheiratet.“
„Verstehe. Bei all dem Papierkram, ist es natürlich verständlich, dass vorerst noch zwei Nachnamen auf der Klingel stehen.“

Ich nickte leicht mit dem Kopf, um ihre Aussage zu unterstreichen und ließ mich auf ein Gespräch mit ihr ein. War ja jetzt nicht so, als hätte ich eine andere Wahl gehabt. Leider schaffte ich es kaum einen klaren Gedanken zu fassen, denn er stand direkt neben seiner Frau und musterte mich diskret..

„Egi, steht für Egzona?“, wollte Lynn wissen.
„Richtig.“

Täuschte ich mich, oder zeichnete sich auf seinem Mundwinkel ein Lächeln ab? Das war Provokation. Pure Provokation! Was im Gottes Namen sollte das werden?

„Lorik und ich gehen schon mal rein. Hat mich gefreut, Frau Shabani“, unterbrach er das Gespräch.
„Ach, Raif, nicht so formell. Ab jetzt sind wir nicht nur Nachbarn, sondern auch Freunde.“

Lynn strahlte mich an. Raif also. Okay. Freunde? Natürlich. Selbstverständlich. Ich musste mich gerade zusammen reißen, um nicht in hysterisches Gelächter zu verfallen. War das auch wirklich kein Albtraum, aus dem ich gleich aufschrecken würde?

Ein Glück, dass auch Lynn vorerst genug hatte. Ich öffnete die Tür meiner Wohnung und schloss sie wieder, ohne mich noch einmal umzudrehen. Meine Knie fühlten sich plötzlich so weich an. Ich ließ mich gegen die Wand fallen und schloss die Augen, überwältigt von dem Schock – und der Hilflosigkeit. Was sollte ich jetzt tun?

Berat kam erst ziemlich spät nach Hause. Ich saß auf der Couch im Wohnzimmer, den wir mit meinem, ich betone, meinem Geld einigermaßen bewohnbar gemacht hatten. Ein Tisch, eine Couch und einen Fernsehschrank ohne Fernseher. Toll, nicht wahr?

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