Flucht in die Zukunft

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Noch bevor die Sonne am nächsten Morgen über den Berg gewandert war, schlug ich bereits meine Augen auf und erhob mich von meinem provisorischen Schlafplatz. Obwohl es eindeutig gemütlichere Orte gab um seinen Schlaf nachzuholen, war ich am Abend zuvor dennoch so erschöpft gewesen, dass ich innerhalb weniger Minuten eingeschlafen war. Den Gedanke, der mir kurz zuvor durch den Kopf geschossen war, hatte ich aber dennoch nicht vergessen. Es würde leichter sein einen Neuanfang zu wagen, als dieses Haus und all die Erinnerungen darin noch einmal von Grund auf neu aufbauen zu müssen.

Also zögerte ich nicht lange und folgte meinem neu gefassten Beschluss. Leno war noch immer seelenruhig damit beschäftigt an seinem Heu zu knabbern, doch bedauerlicherweise musste ich ihn davon abbringen, um ihm die Trense überzuziehen, die wir schon seit Jahren nicht mehr bei ihm benutzt hatten. An Reiten hatte damals niemand von uns gedacht. Dafür war uns keine Zeit geblieben. Den Wagen und die Hühner würde ich hier lassen. Jurian würde sich mit Sicherheit darum kümmern, da bestand kein Zweifel.

Ich führte Leno aus dem Stall hinaus, wobei mein Blick wie automatisch an unserem ehemaligen Haus hängen blieb, welches nun nur noch mit vereinzelten Balken wie eine schwarze Hand in den Himmel ragte. Unser Haus in diesem Zustand zu sehen, war einfacher zu ertragen. Es war vorbei und auch wenn der große Teil in mir sagte, dass ich mir Zeit für meine Trauer nehmen musste, hatte meine Mutter mir bereits mit jungen Jahren erklärt, dass man jederzeit nach vorne sehen sollte. Ich musste mir meinen eigenen Weg suchen, mit dem ich glücklich werden und zur gleichen Zeit auch trauern konnte.

Nach einem tiefen Atemzug setzte ich meine Schritte fort und blieb neben einem etwas stämmigeren Zaun stehen, um mich dadurch auf Lenos Rücken schwingen zu können. Bevor ich jedoch einen Fuß auf einen dieser Balken setzen konnte, stoppte ich mitten in meiner Bewegung und blickte zu dem Haus, wo Jurian wohl noch tief und fest schlafen musste. All die Gegenstände die mir am wichtigsten waren und auch einige meiner Kleidungsstücke lagen noch bei ihm. Doch die leise Stimme in mir sagte, dass ich auch dies hier zurücklassen konnte. Ein wenig Geld hatte ich noch in der Seite meines Mantels versteckt und würde damit sicher eine Weile auskommen. Alles andere würde auf Dauer nur Ballast auf meinem Weg sein.

Mit einem kurzen Nicken, welches mir selbst ein wenig neuen Mut geben sollte, trat ich schließlich auf den breiten Balken dieses Zauns und schwang mich auf Lenos Rücken. Ich hätte mich von Jurian verabschieden sollen, doch er würde nur versuchen mich aufzuhalten. Mich von meinem Wunsch abzubringen, meinen eigenen Weg zu finden. Also war es wohl das Beste, ihm nun nicht mehr zu begegnen. Für einen kurzen Augenblick ließ ich meinen Blick noch einmal über das Dorf gleiten, welches nun langsam in das Gold der aufgehenden Sonne getaucht wurde.

Ich könnte mich umentscheiden. Wieder absteigen, Leno zurück in den Stall bringen und so tun, als wäre rein gar nichts passiert. Doch dadurch würde sich meine jetzige Situation auch nicht ändern. Ich würde mit den Dingen zurechtkommen müssen, die mir geblieben waren und es war abzusehen, dass mich dies nicht glücklich machen konnte. Nicht auf Dauer. Ich brauchte meinen Seelenfrieden und den würde ich wohl nur bekommen können, wenn ich diesen Ort hier hinter mir ließ. Wenigstens ein Gedanke tröstete mich, während ich Leno dazu antrieb, die ersten Schritte in die Richtung unserer neuen Zukunft zu gehen.

Meine Mutter würde bei mir sein. Nicht mehr als Person, dennoch als Erinnerung in meinen Gedanken. Ich ließ nur ihren Körper hier zurück. Ihre Seele würde mir folgen, wo auch immer ich hingehen würde. Sie ließ mich nicht alleine. Es war ein Gedanke, der mir Zuversicht schenkte. Ich wagte mich ganz alleine in diese große Welt, mit der Hoffnung einen Ort zu finden, der meine neue Heimat werden konnte. Weit weg von all den schlimmen, sowie auch schönen Erinnerungen in diesem Dorf. 

Schritt für Schritt entfernten wir uns immer weiter von dem kleinen Dorf, in dem ich aufgewachsen war. In dem all die guten als auch schlechten Jahre meines Lebens stattgefunden hatten. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich mit meiner Mutter zum Markt gefahren war, um diese Männer zu treffen. Auch an diesem Tag hatte ich damit gerechnet, dieses Dorf für immer zu verlassen. Damals hatte ich mich mit diesem Gedanken äußerst unwohl gefühlt. Meine jetzige Situation glich diesem Tag ziemlich genau, doch ich empfand diesen Abschied anders. Ich fühlte nun einen Hauch von Freiheit in meinem Inneren, den ich damals nicht verspürt hatte.

Wir erklommen den ersten Berg, was auf Lenos Rücken deutlich angenehmer war, als ihn selbst emporsteigen zu müssen. Nicht eine Sekunde blickte ich zurück, zu dem Ort der mich mein Leben lang begleitet hatte. Ich ritt einfach weiter. Den goldenen Sonnenstrahlen folgend, die mir meinen Weg zu weisen schienen. Noch wusste ich nicht, wo mein Ziel sein würde. Doch ich schlug gedanklich eine Richtung ein, die ich als die Richtige empfand. Viel konnte dabei nicht schief gehen. Es würde möglicherweise eine Weile dauern, doch irgendwann würde ich auf ein weiteres Dorf treffen. Vielleicht sogar auf eine Stadt oder etwas gänzlich anderes. Es war aufregend, nicht zu wissen, wohin mein Weg mich führen würde.

Es dauerte eine Weile, bis ich die Berge hinter mir ließ und in ein flacheres Gelände kam. Weit und breit gab es hier nur riesige Felder. Jedoch keine, die wir Menschen bepflanzt hatten. Sie waren unberührt, ließen hier und dort ein paar Blumen aus ihrer grünen Welt herausragen. Ich wollte Leno nicht verausgaben, weshalb ich das gleichmäßige Tempo im Schritt beibehielt. Schließlich wusste ich nicht, wie lange wir unterwegs sein würden, bis wir eine vorübergehende Bleibe fanden.

Der kalte Wind war über diesen weiten Feldern noch deutlicher zu spüren als in unserem Dorf, wo uns die Berge und Hügel ein wenig Schutz geboten hatten. Ich bereute lediglich, damals diesen dicken Wintermantel auf dem Markt nicht gekauft zu haben. Möglicherweise wäre mir damit weniger kalt, als mit dem, den ich jetzt trug. Doch ich musste mich damit begnügen und akzeptieren, dass es sowohl eine weite, als auch kalte Reise werden könnte. Die Felder um uns herum entwickelten sich mit der Zeit zu den Versionen, die ich bereits aus unserem Dorf kannte. Nur wenige Minuten später sah ich bereits die ersten Häuser des zugehörigen Dorfes auftauchen.

Mit jedem Schritt den wir näher darauf zu ritten, wurde mir klar, dass es ebenso klein sein musste, wie mein ehemaliges Zuhause. Außerhalb der großen Stadt gab es womöglich unzählige solcher Dörfer. Es war abzusehen gewesen, dass es nicht lange dauern würde, einem dieser zu begegnen. Einen Halt bedeutete dies für mich jedoch nicht. Ich wollte weiter. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich noch lange nicht am Ziel war. Ich durchquerte das Dorf in einem gemütlichen Tempo, wobei ich unweigerlich die Blicke der Menschen auf mir spüren konnte, die sich womöglich über mein Auftauchen wunderten. Zu ihrem Glück, war ich lediglich auf der Durchreise.

Aus diesem Grund ließ ich auch dieses Dorf hinter mir, ohne weiter einen Gedanken daran zu verschwenden. Ich wollte mich auf das konzentrieren was vor mir lag und nicht darauf, was ich zurückließ. Dies fiel mir ohnehin schon schwer genug. Hinter diesem Dorf folgte nur noch ein kleines Stück, welches von Feldern umgeben war, ehe sich eine breite Wand aus Bäumen vor uns erstreckte. Es führte kein direkter Weg hinein, doch mit dem Schein der Mittagssonne, würde Leno genug sehen können, um für uns einen Weg hindurch zu finden.

Umso tiefer unser Weg jedoch in den Wald führte, desto dichter wurde das Blätterdach über uns und verdunkelte zunehmend die Umgebung. Ich hatte angenommen, dass es lediglich ein kleines Waldstück war, welches leicht zu durchqueren sein würde. Doch ich hatte mich getäuscht. Selbst in der Richtung aus der wir gekommen waren, war nun kein einziger Lichtpunkt mehr zwischen den Bäumen zu erkennen, der die Felder dahinter hindurchleuchten ließ. Um uns herum war es nun gänzlich dunkel.

Ich ließ mich davon jedoch nicht beirren und trieb Leno mutig den Weg weiter hindurch. Das einzige Geräusch waren seine schweren Hufe auf dem Waldboden, unter denen hin und wieder ein paar Äste knackend zerbrachen. Zu meinem Glück wurde der kalte Wind von den Bäumen ein wenig gedämpft und wehte nur noch wie ein sanftes Flüstern um uns herum. Erst einige Minuten später, in denen das Flüstern merkwürdigerweise lauter wurde, fiel mir auf, dass nicht der Wind die Ursache davon war.

Nur einen Augenblick später, nachdem mir dies bewusst geworden war, traf mich etwas Hartes an meinem Kopf, was einen stechenden Schmerz verursachte und mich unweigerlich von Leno's Rücken rutschen ließ. Unsanft landete ich auf dem hölzernen und somit nicht sehr weichen Boden des Waldes, konnte dabei aber leider nicht schnell genug reagieren, weshalb mein Kopf erneut einen harten Schlag abbekam. Diesmal war ich mir jedoch sicher, dass dies ein Stein gewesen sein musste. Die nächsten Sekunden zogen lediglich wie hinter einem Schleier an mir vorbei. Lenos dunkles Fell schimmerte leicht hindurch, doch er schien sich immer weiter von mir zu entfernen. Das Letzte was ich sah, waren zwei dunkel gekleidete Personen, die sich mir näherten. In der nächsten Sekunde verlor ich bereits das Bewusstsein. 

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt