Brüderliches Band

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„Geht es dir besser?" fragte mich Phileas, sobald die Flügeltüren hinter uns ins Schloss gefallen waren und uns im Gang dahinter Stille empfing. Ich wollte ihm darauf antworten, als er noch ein paar Worte hinzufügte. „Jurian hat mir berichtet, dass du in der vergangenen Nacht nicht gut geschlafen hast." Dass ich mit den Augen rollte, war unvermeidlich. Natürlich hatte er ihm dies erzählt. Es kam mir so vor, als würden die beiden unter einer Decke stecken, um mich davon abzuhalten, Zeit mit Kiyan zu verbringen.

„Der Tee ist sehr hilfreich. Er nimmt mir einen großen Teil der Schmerzen." Diese Antwort legte ich mir gründlich in Gedanken zurecht. Es war nicht leicht, sich darauf zu konzentrieren, während die aufgehende Sonne äußerst spannende goldene Strahlen in die Eingangshalle warf, welche wir kurz darauf durchschritten. „Ich nehme an, dass du auch jetzt davon beeinflusst wirst?" Es klang wie eine Frage, doch ich wusste, dass er dies als Feststellung meinte. Er erwähnte dies, als würde es ihm alles andere als gefallen.

„Bitte achte darauf, dass du die Dosis gering hältst. Amalia wird nachher noch einmal nach dir sehen." Er legte eine Hand an meinen Rücken und schob mich regelrecht in den Gang, der in die Richtung des Gartens führte. Warum wir das Schloss nicht direkt durch die großen Eingangstore verließen, verstand ich nicht. „Es geht mir bereits viel besser, Phileas. Ich muss nicht unter Beobachtung stehen, wie ein tollwütiger Hund im Käfig." Ich kicherte leise bei dem Gedanken, dass ich mir wahrhaftig so vorkam.

„Ich mache mir lediglich Sorgen um dich, Camilla. Jurian liegt es ebenfalls sehr am Herzen, dass du bald gesund wirst und wieder klar denken kannst." „Ich bin durchaus in der Lage, klar zu denken." Meinte ich nun annähernd gereizt und verschränkte meine Arme vor der Brust. Nur weil ich diesen Tee zur Stillung meiner Schmerzen zu mir nahm, bedeutete dies nicht zeitgleich auch, dass ich vollkommen blind und taub gegenüber jeglichen Reizen war. „Erklärst du mir nun endlich, warum deine Nase so mitgenommen aussieht?"

Der Druck von Phileas Hand an meinem Rücken verstärkte sich, was mich automatisch dazu brachte, ein wenig schneller zu laufen. „Du solltest damit aufhören, in alles was du siehst, etwas hinein zu interpretieren." Wir erreichten die Tür zum Garten und befanden uns bereits einen Wimpernschlag später auf dem angenehm weichen Gras, wo uns die kühle Herbstluft umhüllte. Augenblicklich überzog mich eine Gänsehaut und ich zog Kiyans Mantel ein wenig enger um mich.

Es war keine gute Idee gewesen, Phileas hinaus in den Garten zu folgen. Er musste doch ahnen, dass es für mich hier draußen eindeutig zu kalt war. „Ich werde mich wohl damit zufriedengeben müssen, dass du nicht alle meiner Worte in Erinnerung behalten wirst." Sagte Phileas schließlich und ergriff meinen Arm, ehe er stehen blieb und mich dadurch zu ihm umdrehte. Ich runzelte die Stirn. Nicht, weil ich seine Worte nicht verstand, sondern weil ich mir nicht vorstellen konnte, was er mir nun sagen würde.

„Es ist kalt." Beschwerte ich mich, in der Hoffnung, in dadurch ablenken zu können. Wenn er ein ernsthaftes Thema mit mir besprechen wollte, war dies hier wohl weder der richtige Zeitpunkt, noch der richtige Ort dafür. „Warum vertraust du ihm?" Diese Frage kam so unerwartet nach dem überrollenden Moment des Schweigens, dass ich nicht sofort darauf antworten konnte. Meine zuvor getätigte Aussage, ließ er unbeachtet. „Jurian?" Ich stellte mich absichtlich ein wenig dämlich dar, obwohl ich wusste, dass er damit seinen Bruder gemeint hatte.

„Anfangs habe ich wahrhaftig die Hoffnung geschürt, dass du Kiyan helfen könntest, wenn du nur oft genug mit ihm Zeit verbringst." Noch immer verstand ich nicht, worauf er hinauswollte. Mein Versuch, mich aus seinem erbarmungslosen Griff um meinen Arm zu lösen, scheiterte vergeblich. „Ich nehme an, dass es funktioniert hat?" fragte ich unsicher nach und versuchte einen direkten Blickkontakt mit ihm herzustellen. Er wich diesem jedoch als, als wäre es ihm unangenehm, mich auch nur anzusehen. 

Ein Kopfschütteln folgte von Phileas als Antwort, ehe er wieder zu sprechen begann. „Nein, also.. womöglich schon. Doch nicht auf eine Weise, die ich erwartet hatte." Erklärte er mir und ließ nun endlich, zu meiner puren Erleichterung, meinen Arm los. Ich hätte mich umdrehen und wieder zurück ins Schloss gehen können. Stattdessen blieb ich hier bei ihm stehen und legte lediglich meine Arme um meinen Körper, um mich in dieser unaufhaltsamen Kälte etwas zu wärmen.

„Ich habe ihm jahrelang mein Vertrauen geschenkt, Camilla. Er ist mein Bruder und war nach dem Tod unserer Schwester mein engster Vertrauter." Ich wich einen kleinen Schritt vor ihm zurück, da ich zu spüren begann, in welche Richtung dieses Gespräch führen würde. Nur ungerne erinnerte ich mich an den Anblick, der sich mir in der vergangenen Nacht außerhalb des Fensters geboten hatte. Womöglich war dies der Grund gewesen, warum Kiyan auf diese Weise reagiert hatte.

„Können wir zu einem anderen Zeitpunkt darüber sprechen? Ich bin wohl im Augenblick nicht gänzlich bei mir." Der bittende Ausdruck in Phileas Blick, ließ mich innehalten, bevor ich noch eine weitere Ausrede bereitlegen konnte. Mir war dieses Gespräch äußerst unangenehm, da ich mich nur ungerne zwischen ihn und seinen Bruder stellen wollte. Sie waren mir beide in den vergangenen Monaten sehr ans Herz gewachsen. „Genau aus diesem Grund bitte ich dich darum, mir jetzt genau zuzuhören. Vielleicht bleiben meine Worte in den entlegensten Ecken deines Verstandes hängen und du erinnerst dich wieder daran, sobald die Zeit gekommen ist."

Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken, als ein Windstoß aufkam und selbst unter den Mantel die kühle Herbstluft trug. Sollte ich noch länger hier draußen bleiben, würde ich womöglich noch erfrieren. Dies sagte mir zumindest mein benebelter Verstand, der ohnehin jede Situation in das jeweils mögliche Extrem dessen umwandelte, was ich wahrnahm. Phileas trat ein wenig näher an mich heran und hob eine Hand, um diese an meine Wange zu legen. Erst wollte ich vor dieser Berührung zurückschrecken, doch als ich spürte, wie angenehm warm seine Hand im Vergleich zur aktuellen Außentemperatur war, wehrte ich mich nicht dagegen.

„Mit jedem nun vergangenen Jahr, hat Kiyan mein Vertrauen zunehmend für sich bewogen und es in Wege geleitet, die ihm die Freiheiten gaben, sich vollkommen unkompliziert im Schloss zu bewegen. Nun hat er es ohne nachzudenken gewagt, unseren Vater blutrünstig zu ermorden. Ich denke nicht, dass ich dir dies erklären muss, schließlich musstest du es selbst mit ansehen." Ich nickte zögernd. Die Erinnerung an diesen Moment erschauderte mich noch immer. „Du wirst dein Bestes gegeben haben, um ihn zu einem besseren Menschen zu machen, Camilla. Doch stattdessen hat er sich zum Gegenteil entwickelt."

Diese Worte brachten mich nun doch dazu, meine Wange von seiner Hand zu lösen und ihm einen misstrauischen Blick zuzuwerfen. Der Ausdruck in seinen Augen wirkte ehrlich, verletzt und womöglich sogar verzweifelt. „Es ist nicht deine Schuld, dass er zu diesem Menschen geworden ist. Lediglich die Tatsache, dass du ihm nahe stehst, hat ihn auf diese Weise verändert." Ich verstand nicht, warum dies ein Problem sein sollte. Schließlich hatte er förmlich das gesamte Land vor der weiteren Herrschaft eines Tyrannen bewahrt.

„Vater mag unser Peiniger gewesen sein. Ein Mensch, der vor absolut nichts zurückschreckt. Doch diese Tat macht Kiyan nicht zeitgleich zu einem guten Menschen. Im Gegenteil. Er war schon immer der hohen Kunst des Lügens fähig und nun ist er ein Mörder, der seine Tat für gerechtfertigt hält." Ich schüttelte den Kopf. Fassungslos darüber, wie Phileas solche Worte gegenüber Kiyan wählen konnte. Seinem Bruder, der so viel auf sich genommen hatte, nur um seinen kleinen Bruder vor seinem Vater zu schützen. Die Narben auf Kiyans Rücken waren ein mehr als eindeutiger Beweis, für diese selbstlose Hingabe. „Das ist nicht wahr! Er bemüht sich jeden einzelnen Tag darum, dass innerhalb der Mauern alles im Reinen bleibt."

Phileas ignorierte meine Worte vollkommen und deutete mit einem Nicken in die Richtung des Schlosses. „Es ist mir nicht möglich dich zu zwingen, dich nach all dem wieder von ihm fernzuhalten, Camilla." Über diese Tatsache schien er wahrhaftig sehr bestürzt zu sein. „Ich kann dich lediglich darum bitten, in seiner Nähe vorsichtig zu sein." Daraufhin deutete er auf seine Nase. „Er scheint nicht einmal vor seinem eigenen Bruder Halt zu machen und weder Jurian noch ich werden mit ansehen können, wie er auch dich irgendwann verletzen wird."

Die ZofeDonde viven las historias. Descúbrelo ahora