Ein unsichtbares Band

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Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen, blickte ich zu ihr hinab und versuchte zu erkennen, um welches Buch es sich handelte, welches sie beinahe vollständig mit ihren Händen verdeckte. „Bitte entschuldige, Phileas. Ich muss die Zeit aus den Augen verloren haben." Sie machte Anstalten, sich von ihrem Platz unter dem Baum zu erheben, ich kam ihr allerdings mit einer kurzen, abweichenden Geste zuvor. „Du hast dir einen freien Nachmittag verdient, Camilla. Vater wird vorerst nicht nach dir suchen, es gibt im Augenblick andere Dinge, mit denen er sich den Tag über herumschlägt."

Irritiert ließ sich Camilla wieder auf ihrem Platz nieder und ich beschloss, mich für einen Moment zu ihr zu setzen, um ihr Gesellschaft zu leisten. Zumal ich im Moment selbst eine kurze Auszeit gebrauchen konnte. „Diese junge Frau.." fing sie schließlich an und ich begann langsam zu nicken. „Ich weiß womöglich genauso wenig über sie, wie du. Mary ist sehr.. eigensinnig. Sie ist Vater in vielerlei Hinsicht ähnlich. Ich weiß nicht, welche Absichten er damit verfolgt, doch es scheint nichts Gutes zu bedeuten."

„Was ist mit Kiyan? Weiß er etwas darüber?" fragte sie mich und ich musste einen Augenblick darüber nachdenken. Bereits seit einer Weile geschahen einige Dinge innerhalb des Schlosses, welche ich zum Einen nicht verstand oder zum Anderen nicht einmal etwas davon wusste. Kiyan wusste über diese Dinge deutlich mehr, als er mir gegenüber zugeben wollte. Es wäre daher nicht verwunderlich, wenn er über unseren Gast mehr Informationen von unserem Vater erhalten hatte, als ich. „Das weiß ich nicht.. er würde sein Wissen allerdings auch nicht mit mir teilen, wenn ich ihn danach fragen sollte." Gestand ich, was ich als kleine Hürde zwischen meinem Bruder und mir empfand. Vater wusste stets ganz genau, wem er welche Informationen zuspielen musste, damit wir nach seinen Wünschen handelten. „Doch wenn du ihn fragst.."

Camilla schüttelte augenblicklich den Kopf und der Blick, den sie mir zuwarf, wirkte beinahe fassungslos. „Wir gehen bereits ein viel zu großes Risiko ein, während wir hier gemeinsam sitzen, Phileas. Ich kann nicht kommentarlos zu ihm nach oben spazieren und ihn nach dieser Frau ausfragen. Dein Vorschlag ist berechtigt, aber das wäre.." Sie erinnerte mich daran, dass ich womöglich im Augenblick der Grund dafür sein könnte, dass sie in Schwierigkeiten geriet. „Schon gut, Camilla. Als Vater noch auf Reisen war, verlief alles ein wenig einfacher."

Sie entspannte sich wieder ein wenig nach meiner Einsicht, jedoch konnte ich in ihrem Augen sehen, wie ihr Blick gelegentlich über den Garten um uns herum wanderte. „Was ist das für ein Buch?" fragte ich sie schließlich, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Im Augenblick schien sie sich in meiner Gegenwart deutlich unwohl zu fühlen und ich konnte es ihr nicht einmal verübeln. „Es ist aus der Bibliothek. Womöglich hätte ich vorher fragen sollen, ob ich es.." begann sie und ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Die Bibliothek steht dir jederzeit zur Verfügung, Camilla. Vater würde es ohnehin nicht bemerken, wenn eines der Bücher fehlt. Er ist so selten dort, ich glaube, er hat bereits vergessen, dass dieser Raum überhaupt existiert."

Dadurch konnte ich ihr endlich ein Lachen entlocken und es erleichterte mich sehr, sie so zu sehen. Seitdem Vater zurückgekehrt war, schien sie nicht mehr solch freudiger Stimmung zu sein wie zuvor. Nach diesem kurzen Auflachen, verschwand die aufgehellte Stimmung allerdings wieder aus ihrem Gesicht. „Diese Frau.. sie ist aus dem Westen, habe ich recht? Ist euer Vater nicht dort hingereist, um die Konflikte zu klären, welche dort vorherrschen?" fragte sie mich und allein an meinem nun niedergeschlagenen Gesichtsausdruck, hätte sie erkennen müssen, dass ich dabei, genau wie sie, im Dunkeln tappte.

„Vater ist bereits einige Male vereist und ich kenne bis heute nicht jeden einzelnen Grund für diese Reisen. Mary kommt aus dem Westen, das ist richtig und soweit ich mitbekommen habe, scheinen die Konflikte dort noch immer nicht schwächer geworden zu sein. Ich weiß nicht, in welchem Zusammenhang Mary dazu steht. Seit Mutter erkrankt ist, blieb uns keine andere Wahl, als Vater zu vertrauen." Erklärte ich ihr, wobei ich auch zur Sprache brach, weshalb wir in Vaters Handlungen solch ein Vertrauen setzen mussten. „Als wir noch Kinder waren, Kiyan und ich, hat es deutlich mehr Anschläge auf das Schloss gegeben, als in der jetzigen Zeit. An manchen Tagen mussten wir uns über längere Zeit in den Tiefen des Kerkers verstecken, in der Hoffnung, dass uns dort niemand finden würde."

„Diese – Rebellen – haben es schon damals geschafft, das Schloss zu betreten?" fragte sie regelrecht geschockt und selbst mir lief bei der Erinnerung daran, ein Schauer über den Rücken. „Nur für wenige Stunden. Sie sind sehr grob vorgegangen und haben sich einen Weg durch das Haupttor durchgeschlagen." „Haben sie euch gefunden?" Ich schüttelte den Kopf, erleichtert darüber, dass ich dies heute erzählen konnte und nicht wie viele andere, mein Leben dabei hatte geben müssen. „Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie alles geendet hat. Seit diesem Tag, wurden diese Anschläge jedoch immer seltener. Kiyan und ich haben uns bereits einige Male den Kopf darüber zerbrochen. Er weiß, an welchen Stellen Vater im Augenblick verhandelt, aber auch er konnte nie herausfinden, warum seitdem alles ruhiger geworden ist. Wir gehen davon aus, dass Vater gezielte Vereinbarungen getroffen hat."

„Ich nehme an, dass es nicht unbedingt etwas Gutes zu bedeuten hat." Murmelte Camilla nachdenklich, während ihr wohl die unterschiedlichsten Szenarien durch den Kopf schossen. Auch als Antwort hierzu, musste ich den Kopf schütteln. „Dass Vaters Handlungen jederzeit schlecht gewesen waren, kann ich nicht behaupten, schließlich haben wir ihm in manchen solcher Situationen unser Leben zu verdanken. Für jede Vereinbarung die er trifft, muss auch er ein Opfer geben. Nur bedauerlicherweise wissen wir nicht, welches das ist. Schließlich werden sich diese Rebellen nicht ohne Grund von unserer Familie fernhalten."

„Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie schwer all das für Kiyan sein muss. Auch ohne die Konflikte liegt hier im Schloss bereits genug im Unklaren." Sprach Camilla mit einem nachdenklichen Unterton aus. Ich verstand was sie meinte. Obwohl ich mit all den Dingen, mit denen Kiyan beauftragt wurde, nichts zu tun hatte, spürte ich dennoch, welch große Last täglich auf seinen Schultern lag. Nach all den Geschehnissen in unserer Vergangenheit, konnte es wahrlich nicht einfach sein, mit unserem Vater zusammenzuarbeiten.

Für einen Moment ließ ich meinen Blick über den Garten um uns herum schweifen. Es war keine weitere Menschenseele zu erkennen, wir schienen vollkommen ungestört zu sein. „Er hat sich verändert, seitdem du hier bist, Camilla." Mein Blick richtete sich wieder auf sie und ihr, teils unsicherer aber auch aufmerksamer Blick, kreuzte sich mit meinem. „Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als wir dich im Wald gefunden haben. Kiyan war der Meinung, wir sollten dich dort liegen lassen. Er kannte Vater's Meinung zu Neuankömmlingen, welche er nicht explizit herbeiberufen hat."

„Ihr habt mich dennoch mitgenommen." Ich nickte bestätigend. „Seit diesem Tag ist Einiges geschehen. Der Ausflug in die Stadt war ursprünglich nicht meine Idee gewesen. Sie kam von Kiyan." Camilla's Augen weiteten sich, als sie dies hörte. Schließlich hatte sie von Kiyan eine gänzlich andere Information darüber erhalten. „Das verstehe ich nicht. Warum hat er gelogen?" Ein Schmunzeln schlich sich auf meine Lippen, ehe ich darauf antwortete. „Er hat nicht gänzlich gelogen, nur bedingt die Wahrheit verheimlicht."

„Mir war schon immer bewusst, dass er unsere Bediensteten nicht so wertschätzte, wie ich es tat. Daher kam sein Vorschlag, dir einen Ausflug in die Stadt zu ermöglichen, mehr als unerwartet." Erklärte ich ihr, woraufhin ein zögerliches Lächeln auf ihren Lippen erschien. „War er nicht schon seit Beginn seiner Zeit unberechenbar?" Ich wiegte meinen Kopf leicht hin und her. Vollkommen unrecht hatte sie damit nicht. „Du kannst mir glauben, wenn ich sage, dass Kiyan niemals leichtsinnig handelt. Er hat schon immer einen hohen Wert darauf gelegt, Vater zufrieden zu stellen. Sein Vorschlag, dir einen Ausflug in die Stadt zu ermöglichen, war demnach alles andere als durchdacht und widersprach grundlegend seinen Prinzipien."

„Es wäre beinahe alles schiefgegangen." Gab Camilla von sich, weshalb ich annahm, dass sie verstand, worauf ich hinaus wollte. „Aus irgendeinem Grund wollte er, dass du dich wohlfühlst, Camilla. Er ist stets vorsichtig, wem er sein Vertrauen schenkt. Auf mir unerklärliche Weise, hast du ihn dazu bewegt, dass er dich nicht mehr als minderwertige Bedienstete betrachtet, wie all die anderen hier im Schloss." Ihr Blick wurde nachdenklich und sie schien mit ihren Gedanken ein wenig abzuschweifen. Camilla hatte erfahren, warum Kiyan stets schlaflose Nächte hatte. Gründe, die mir nicht bekannt waren und ich wusste auch nicht, dass sie diese kannte.

Zwischen den beiden lagen mehr geteilte Informationen, als ich ahnen konnte. Trotz der Leichtsinnigkeit, mit der mein Bruder gehandelt hatte, als er mit Camilla in die Stadt geritten war, war ich froh darüber, dass sie nun hier war und ihm nahe stand. Sie und mein Bruder, waren wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden, dessen Hintergründe weder ich, noch die beiden selbst, jemals verstehen konnten. 

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt