"Hast du dich verlaufen?"

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15.07.2020

Ich sass auf der Parkbank und betrachtete meine schwarzen Pumps im Spielkastensand. Hin und wieder erntete ich ein paar kritische Blicke von mit Wickeltaschen und Kinderwagen vollgepackten Müttern. Sie fragten sich wohl, was eine 26-jährige im Hosenanzug mit zwei 7-jährigen Mädchen auf dem Spielplatz zu suchen hat. Ich hatte meine Nichte Mia und ihre Freundin Tyga direkt nach der Arbeit von der Schule abgeholt, da sie sich zum Spielen verabredet hatten. Tyga war wirklich ein bezauberndes Mädchen mit glänzenden, schwarzen Locken und dunklem Teint und ebenso dunklen Kulleraugen. Mia war ebenso bildhübsch und sah meiner Schwester und damit auch mir sehr ähnlich. Bei uns allen war der italienische Touch durch die etwas dunklere Haut, das wellige, dunkelbraune Haar und die haselnussbraunen Augen gut zu erkennen. Meine Schwester und ihr Mann waren diese Woche das erste Mal seit Mias Geburt alleine in den Urlaub gefahren und ich passte in der Zeit auf Mia auf. Ich liebte die Kleine sehr und machte es gerne, trotz einiger Bedenken meiner Schwester, da ich schliesslich Vollzeit arbeitete. Aber für sie nahm ich mir gerne diese Woche Nachmittags frei. Ich beobachtete die beiden beim Spielen und musste lächeln.

Ein Klingeln riss mich aus meinen Gedanken und ich schaute auf mein Handy. Meine Schwester. «Ja Schwesterherz, ich habe alles unter Kontrolle, geniesst jetzt euren Urlaub.» Grinsend verdrehte ich die Augen. «Ich weiss doch, du hast mein vollstes Vertrauen. Ich wollte dir nur sagen, dass Tygas Mutter mich gebeten hat, sie nach dem Spielen direkt zu ihrem Vater zu bringen. Kannst du das machen? Ich schick dir die Adresse.» Ich sagte zu und wünschte den beiden einen schönen Abend. Um 18 Uhr machten wir uns auf den Weg zu der Adresse, die ich von meiner Schwester bekommen hatte. Dass die Wohnung ganz in der Nähe der Reeperbahn lag und ein «Ey Puppe, hast du dich verlaufen?», das mir hinterhergerufen wurde, ignorierte ich gekonnt. Ich fuhr mit meinem Finger über die Namensschilder des Gebäudes. Ah, da war es. John Moser. Ich klingelte und als sich nach 2 Minuten immer noch nichts tat, klingelte ich nochmals. «Digga Maxwell, wofür hab ich dir eigentlich nen' Schlüssel gegeben?!», ertönte eine genervte Stimme aus dem Lautsprecher und kurz darauf surrte die Eingangstüre. Was für eine Begrüssung. Jetzt nur keine Vorurteile, Siena. Ich setzte wieder ein Lächeln auf und öffnete die Tür. «Na kommt.», forderte ich die Mädchen auf hineinzugehen. Ich nahm beide an die Hand und wir gingen die Treppe nach oben.

Schon im Treppenhaus waren dumpfe Geräusche vom Bass und laute Stimmen zu hören. Bestimmt irgendein Nachbar. «Hier wohnt mein Papa.», meinte Tyga und zeigte auf die Wohnungstüre, wo der Lärm herzukommen schien. Ganz toll. Ich klingelte erneut und wieder nahm sich keiner die Mühe, uns die Tür zu öffnen. «Das ist auch sicher die richtige Wohnung?», hakte ich bei Tyga in der stillen Hoffnung nach, dass sie sich geirrt hatte. Genau in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und Rauch, laute Musik und ein «Alteeeer, was klingelst du hier die ganze Zeit rum du--», hallte uns entgegen. Vor uns stand ein 2 Meter grosser Typ in schwarzer Jogginghose, schwarzem Hoodie und schwarzer Cap, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Als er bemerkte, dass nicht derjenige, den er erwartet hatte vor ihm stand, unterbrach er seinen Satz und hob seinen Kopf etwas um unter seiner Cap hervorzusehen. Zuerst musterte er mich und zog eine Augenbraue hoch, bevor sein Blick auf die beiden Mädchen fiel. «Papa!», rief Tyga begeistert und umarmte sein Bein von der Seite. «Hi, Prinzessin.», begrüsste er sie überrascht und strich ihr liebevoll übers Haar.

Sanft schob er sie einen Schritt nach vorne und zog die Wohnungstür hinter sich zu, wobei unter seinem Ärmel eine protzige Uhr hervorblitzte und mir mit dem Luftzug ein süsslicher Geruch in die Nase stieg. Ach, ein Kleinkrimineller. Ich biss mir fest auf die Lippe. Ich versuchte wirklich, Menschen nicht vorschnell zu verurteilen, aber wegen meines Jobs fiel es mir echt schwer. Ich arbeitete seit ein paar Monaten für die Staatsanwaltschaft und konnte mittlerweile von den Meisten mit nur einem Blick ihr Vorstrafenregister erraten. Ich war sehr jung für diesen Job, aber ich hatte das Glück, nach dem Studium sofort an ein Rechtsreferendariat zu kommen und konnte deshalb das zweite Staatsexamen schon mit 25 ablegen. «Hallo, ich bin--», wollte ich mich höflich vorstellen, wurde aber unterbrochen, weil die Wohnungstür wieder aufgerissen wurde und sich ein ähnlich grosser Typ aber mit braunen Haaren neben uns stellte. Er musterte mich ebenso kritisch und brummte dann «Digga, schicken die jetzt bei Lärmbeschwerden schon die Tippse?» Ich kniff die Augen zusammen. Was soll das jetzt? «Bitte?!» Ich funkelte ihn böse an. «Alter Gzuz, geh wieder rein, mach die Musik aus und sag den anderen sie sollen sich verpissen ok? Tyga ist hier.», sagte ihr Vater worauf der andere Typ zu ihr runter sah und ihr durch die Haare wuschelte. «Na, Kleine.» Dann ging er wieder rein und keine zwei Sekunden hörte man ihn schreien: «FRESSE JETZT!» Die Musik ging aus und es wurde tatsächlich still. Da kann man sagen was man will, effektiv war es ja.

Ich startete einen zweiten Versuch und streckte Tygas Vater meine Hand entgegen. «Eh ja, ich bin Siena und das ist Mia.», stellte ich mich und meine Nichte vor. Zögerlich nahm er meine Hand und schüttelte sie halbherzig. «John.», erwiderte er nur knapp. Es überraschte mich gar nicht, dass er nicht der Typ war, der gerne Hände schüttelte. «Tygas Mutter hat mich gebeten, sie direkt hierher zu bringen.», erklärte ich ihm. «Was? Heute?!» Er nahm seine Cap ab und strich sich durch die blonden Locken, die ihm wild ins Gesicht fielen. Er schien zu überlegen. Erst jetzt konnte ich sein Gesicht richtig erkennen. Seine Augen waren gerötet und er sah ziemlich fertig aus, aber trotzdem fiel mir sofort das strahlende blau seiner Augen auf. Seine Stirn zierten bereits ein paar Falten, weshalb ich ihn auf Mitte dreissig schätzte.

«Was ist den los, Papa?» Tyga sah ihn mit ihren grossen Kulleraugen an. Ihre Stimme klang traurig. Es war wohl nicht das erste Mal, dass er nicht auf ihren Besuch vorbereitet war. Er kniete sich zu ihr herunter und legte eine Hand auf ihren Arm. «Ach nichts. Hast du Hunger? Wollen wir was essen gehen?» Sie schüttelte den Kopf. «Können wir nicht hier bleiben? Ich bin müde.» John kratzte sich am Hinterkopf.
«Ich muss erst die ganzen Leute rausschmeissen.»
«Wieso, was sind das für Leute?»
«Ich hab auch gar nichts mehr zu essen da.», wich er ihrer Frage aus.
«Mama hat immer was zu essen da.»
«Dafür gibt's heute Pommes, einverstanden?»
«Hm, na gut. Darf ich wieder dein Auto lenken?»
«Wir müssen heute mit der Bahn fahren, Prinzessin.»
«Wieso denn?»
«Ich kann jetzt nicht fahren.»
«Aber wieso?»

John seufzte. Er war sichtlich überfordert mit der Situation. Das ist nicht dein Problem, geh einfach. «Weisst du, dein Papa hat mir versprochen, dass ich heute sein Auto fahren darf.», schaltete ich mich ein und kniete mich zu Tyga hinunter. «Was hältst du davon wenn wir alle zusammen was essen gehen?» Tygas Augen fingen wieder an zu leuchten und sie strahlte übers ganze Gesicht. «Ouw ja!» Mia freute sich ebenso und schon war alles vergessen und die beiden rannten die Treppe hinunter. Ich grinste und stand wieder auf. Ein bisschen stolz war ich schon auf mich, wie ich John aus der Scheisse geritten habe. Jedenfalls bis ich bemerkte, dass dafür ich jetzt in der Scheisse stand. Er warf mir einen verwirrten Blick zu und ich hob unschuldig die Schultern. Was besseres war mir auf die Schnelle auch nicht eingefallen.

Dann folgten wir den beiden zu Johns Auto. Als wir dort ankamen, hielt ich es für einen schlechten Scherz. Mal abgesehen davon, dass es im Parkverbot und zur Hälfte auf dem Gehweg stand, hatte ich wirklich alles erwartet, aber nicht DAS. Vor mir stand ein grüner Mercedes-Benz S63 AMG Cabrio. Nicht, dass ich viel von Autos verstand, aber es war DAS Traumauto vom Mann meiner Schwester. Als mir klar wurde, dass ich es fahren durfte, breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus und ich hielt ihm fordernd meine offene Hand hin. Widerwillig kramte er in seiner Hosentasche und drückte mir dann den Autoschlüssel in die Hand. «Fahr den bitte einfach nicht zu Schrott, ok?» Ich liess die Mädchen zuerst einsteigen und vergewisserte mich, dass sie sich anschnallten. Dann öffnete ich die Fahrertür und zwinkerte ihm über die Schulter zu. «Kein Vertrauen in die Tippse?» Ich stieg ein und er setzte sich neben mich auf den Beifahrersitz. «Irgendwie nicht.», murmelte er und lehnte sich zurück.

Ich betrachtete den Wagen und startete dann den Motor. Die rote Lederausstattung konnte sich wirklich sehen lassen und das Geräusch des Motors liess mein Herz zugegebenermassen ein bisschen höher schlagen. John lotste mich durch die Stadt und das Fahren bereitete mir eine viel grössere Freude, als ich es für möglich gehalten hatte. Ich fuhr sehr – nennen wir es dynamisch – und ich bemerkte, wie er mich mit hochgezogenem Mundwinkel von der Seite betrachtete. Er fand es wohl sehr amüsant, wie sein Benz meine Augen zum Leuchten brachte. «Hier kannst du anhalten.», meinte er nach einer Weile und ich sah aus dem Fenster. «Das Haerlin? Das ist ein Gourmetrestaurant.", wandte ich skeptisch ein, tat aber, was er sagte. Es schien ihn nicht sonderlich zu interessieren, denn er war bereits ausgestiegen und holte die Mädchen aus dem Auto. Ich folgte ihm und keine Minute später stand ein Typ im Anzug vor uns, um uns zu begrüssen.

«Guten Abend, Herr Moser.» John sah nicht gerade aus wie ein Stammkunde, aber anscheinend kannte man ihn hier. «Die Dame.» Damit war wohl ich gemeint. «Guten Abend.», antwortete ich höflich. John nahm mir den Autoschlüssel aus der Hand und gab ihn dem Mann vom Parkservice. Ich blickte kritisch an mir herunter und strich meine Bluse glatt. Ein Glück hatte ich mich nach der Arbeit nicht umgezogen. John, der nach wie vor in Jogginghose und Hoodie unterwegs war, schien es kein bisschen zu interessieren wie er aussah. Er stand schon vor dem Eingang und winkte mir ungeduldig zu "Kommst du jetzt oder was?"

Angeklagt [Bonez MC]Onde histórias criam vida. Descubra agora