"Nur eine Frage der Zeit."

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05.09.2020

Am nächsten Morgen wollten wir uns um 8 Uhr mit Raf beim Frühstück treffen und danach zusammen in die Stadt. Ich stand noch eine halbe Ewigkeit vor dem Spiegel in meinem Zimmer und überlegte mir, wie ich es vermeiden konnte, John zu begegnen. Vielleicht würde er ja noch seinen Rausch ausschlafen. Er war gestern doch bestimmt noch feiern gegangen mit den anderen Jungs. Ganz ruhig. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Dabei spielte sich letzte Nacht zum tausendsten Mal vor meinem inneren Auge ab. Seine Wärme, seine Berührungen, seine Küsse... Ich schüttelte den Gedanken schnell wieder ab und verliess mein Hotelzimmer, um die riesige Terrasse im 1. Stock aufzusuchen, wo man frühstücken konnte. Schon als ich um die Ecke bog, sah ich John am Tisch sitzen und mein Herz rutschte in die Hose. Alle sassen da. John, Raf, Gazo, Alex, Maxwell und sogar Mark. Ich war die Letzte. Verdammt. Ich wusste nicht, ob ich mich mehr schämte, John gegenüberzutreten oder Mark. "Guten Morgen, Siena.", rief Raf mir als Erster zu, worauf alle ihren Blick auf mich richteten und mich mit einem Grinsen begrüssten. Fuck, hätte John was erzählt? Am liebsten hätte ich mich in diesem Moment in Luft aufgelöst oder wäre im Erdboden versunken. Ich murmelte ein "Morgen." und setzte mich dann schnell auf den freien Platz. "Gut geschlafen?", fragte mich Raf und ich nickte leicht, während ich meinen Blick auf den Tisch gerichtet hatte. Ich wollte John nicht ansehen, da ich sonst womöglich ohnmächtig geworden wäre. Glücklicherweise wurde das Thema schnell wieder gewechselt und ich atmete tief durch.

Ich spürte wie John, der mir schräg gegenübersass, seinen Blick auf mich gerichtet hatte. Zögerlich hob ich meinen Kopf und sah ihm direkt in Augen. Ich hatte Sehnsucht nach ihm. Ich hatte erwartet, dass er mich wieder dreckig angrinsen und versuchen würde, mich noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Stattdessen sah er mich ebenso gedankenverloren an wie ich ihn. Sein Blick hatte etwas Fragendes und Liebevolles. Ich war wie hypnotisiert von seinen Augen, was mich dazu brachte, wieder in Gedanken an letzte Nacht zu verfallen. "Hallo? Erde an Siena?", riss mich Alex unsanft in die Realität zurück und fuchtelte vor meinem Gesicht herum. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er mich etwas gefragt hatte. "Was?!", antwortete ich ein bisschen zu forsch. "Was ist dir denn über die Leber gelaufen?", fragte er leicht genervt und runzelte die Stirn. Schon wieder wurden alle Blicke auf mich gerichtet und ich bemerkte, wie Mark nervös auf seinem Stuhl hin und her rutschte. "Können wir kurz reden, Siena?", brachte er schliesslich kleinlaut hervor. Oh shit, er dachte wohl, es hätte was mit unserem kleinen "Abenteuer" von gestern zu tun. Ich nickte, stand dann auf und wir gingen ein Stück vom Tisch weg ans äussere Ende der Terrasse. "Alles okay?", fragte ich ihn, so als wüsste ich nicht, um was es geht und schenkte ihm ein schiefes Lächeln. "Ja, ich wollte nur... also wegen gestern.", begann er und räusperte sich dann. "Es ist mir furchtbar unangenehm, was gestern war. Sowas ist mir noch nie passiert. Ich weiss wirklich nicht, was--", wollte er mir erklären, doch ich unterbrach ihn gleich wieder. "Schon gut, Mark. Es muss dir nicht unangenehm sein. Wir vergessen gestern Abend einfach, okay?", schlug ich ihm vor und er atmete erleichtert aus. "Ich danke dir."

Ich lehnte mich zurück und stützte mich mit den Händen am Geländer ab. Die Kälte des Metalls erinnerte mich an den Teil von gestern Abend, den ich definitiv nicht vergessen wollte. Ich warf über Marks Schulter einen Blick zu John, der uns kritisch beobachtete. Ich musste dieses Chaos endlich beenden. "Hör zu, Mark. Dieser Kuss gestern... das hat sich für mich nicht richtig angefühlt.", brachte ich nach tiefem Durchatmen über die Lippen. "Ich denke es ist besser für uns beide, wenn wir nur Freunde bleiben.", erklärte ich ihm vorsichtig. Er wirkte überhaupt nicht überrascht. Stattdessen nickte er verständnisvoll. "Ich verstehe. Es ist wegen ihm, nicht wahr?", sagte er dann und sah mich besorgt an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und senkte meinen Blick. "Ich weiss es nicht.", gab ich leise zu. "Ich mach' mir Sorgen um dich, Siena. Ob du es wahrhaben willst oder nicht: er ist vorbestraft und wir versuchen immer wieder, ein Verfahren gegen ihn aufzurollen. Sachbeschädigung, Urkundenfälschung, Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz und Waffenbesitz sind nur einige der Delikte. Der Typ ist gefährlich für dich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er deine Position als Staatsanwältin ausnutzen will, um mit irgendwas davon zu kommen.", versuchte er mir mit ernster Miene klarzumachen. Schon passiert. Zwei Mal., dachte ich mir. "Du zweifelst an meiner Integrität? Ist das der Grund, wieso du mit nach Barcelona gekommen bist?", drehte ich den Spiess um und zog eine Augenbraue hoch. Ertappt kratzte sich Mark am Hinterkopf. "Ich will dich doch nur beschützen.", meinte er. "Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen, vielen Dank.", antwortete ich ein wenig schnippisch und verschränkte die Arme. Er seufzte. "Ich meine ja nur. Sobald du Gefühle für ihn entwickelt hast, wird es schwierig, einen klaren Kopf zu behalten.", versuchte er es nochmals. Ich wusste, dass er es nur gut meinte, aber ich wollte es gar nicht hören. Wahrscheinlich, weil mein schlechtes Gewissen schon genug gross war. "Ich komm' klar, okay?", versicherte ich ihm, doch sein besorgter Gesichtsausdruck verschwand nicht. "Soll ich heute schon abreisen?", fragte er und ich schüttelte schnell den Kopf. "Sei nicht albern." Ich legte meine Hand auf seine Schulter und lächelte ihn an. "Wir sehen uns heute wie geplant die Stadt an, ja?" Er erwiderte mein Lächeln, aber es hatte etwas Trauriges an sich. Dann gab er mir einen Kuss auf die Wange, bevor er sich von mir löste und zurück zum Tisch ging.

Angeklagt [Bonez MC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt