"Hilf mir."

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Von diesem Zeitpunkt an reagierte ich nicht mehr auf Johns Nachrichten. Ich hätte gar nicht gewusst, was ich ihm schreiben soll. Ich hätte auch gar nicht so tun können, als ob alles normal wäre. Er hatte mich nicht nach den laufenden Ermittlungen gefragt, wofür ich ihm echt dankbar war, und ich hatte ihm auch nichts erzählt, da ich es ohnehin nicht hätte tun dürfen. Der Öffentlichkeit hatten wir bisher nur den Fund der Leiche mitgeteilt und einen Zeugenaufruf gestartet, ob jemand etwas über ihn wusste oder ob jemand etwas gesehen hatte. Die Einzelheiten der Ermittlung blieben aber geheim. Ich sass an meinem Schreibtisch und gab "bonez187erz" in der Instagram-Suchleiste ein. Schon nach den ersten paar Buchstaben erschien sein Profil. Das war nun das zweite Mal, dass ich auf sein Profil klickte und mir seine Story ansah, obwohl ich es immer vermeiden wollte. Die neusten Storys waren erst eine Stunde alt. Ein paar Fotos von Berlin, ein paar Selfies, die er mit Fans gemacht hatte und dann Videos aus dem Studio, wie er zu einem seiner neuen Songs rappte oder das Mischpult filmte. Noch einfacher konnte er es der Polizei in Berlin nicht machen. Ich blickte auf die Uhr und fragte mich, ob sie ihn wohl schon verhaftet hatten. Es würde schnell gehen. Immerhin stand jetzt der Verdacht auf Totschlag oder Mord im Raum. Totschlag nach § 212 Strafgesetzbuch. Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen. Mord nach § 211 Strafgesetzbuch, wenn die Tötung aus niederen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln erfolgt ist. Lebenslange Freiheitsstrafe. Als niederer Beweggrund kommt Rache in Frage. Vergiftung könnte als grausam qualifiziert werden. Wie so oft in den letzten Tagen, stieg die Übelkeit in mir hoch und ich versuchte, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Ein und aus. Ein und aus. Mein Schlafmangel und leerer Magen waren nicht gerade förderlich für meinen mentalen Zustand. Gegen 15 Uhr kam dann die Nachricht, die mir erst richtig klar machte, dass ich gleich meinen eigenen Freund einvernehmen werde. "Wir haben ihn."

17:53

Die letzten vier Stunden zerbrach ich mir den Kopf darüber, ob ich den Fall abgeben sollte. Eigentlich stand es überhaupt nicht zur Debatte: ich musste den Fall abgeben. Es würde gegen das Gesetz verstossen, wenn ich ein Verfahren gegen meinen eigenen Freund führte. Ich musste in den Ausstand treten. Ich hätte es schon tun müssen, als ich erstmals den Verdacht hatte, dass John etwas mit dem Tod meines Stalkers zu tun haben könnte. Doch ich hatte mich damals bewusst dagegen entschieden, den Fall abzugeben, und dieses Mal tat ich es wieder. Mir war klar, was für Konsequenzen es haben würde, falls jemand herausfindet, dass wir ein Paar waren. Irgendwie wollte ich es aber auch nicht wahrhaben. Ja, irgendwie war es mir egal. Irgendwie war mir in diesem Moment alles egal. Als dann die Mitteilung kam, dass John bei der Polizeistation hier in Hamburg angekommen war, verliess mich auch das letzte bisschen Vernunft. "Ich mache die Einvernahme selbst.", kündigte ich sofort am Telefon an und fuhr dann zu der Polizeistation.

Erst als ich vor dem Verhörraum stand und bei den zwei Polizisten, die die Tür bewachten, nachfragte, ob sie ihn bereits über seine Rechte belehrt hatten und ob er bereits einen Anruf getätigt hatte, wurde mir klar, dass es nun kein Zurück mehr gab. Ich nickte den Polizisten zu, um ihnen zu signalisieren, dass sie die Tür nun öffnen konnten. Ich holte nochmals tief Luft und betrat dann den Raum. John sass mir direkt gegenüber. Mit gerunzelter Stirn und ernster Miene. Den Kopf gesenkt. In Handschellen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er den Kopf hob und mir direkt in die Augen blickte. Sein Blick war besorgt und dennoch kalt. Er schien nicht sonderlich überrascht zu sein, dass ich diejenige war, die vor ihm stand. Unser intensiver Augenkontakt liess mich kurz erstarren. Es tat mir weh, ihn in Handschellen zu sehen. Und der Gedanke, was passieren würde, falls er schuldig gesprochen wird, löste in mir noch einen viel schlimmeren Schmerz aus. Doch ich schluckte ihn runter. So wie ich es immer tat. Ich wusste, was auf dem Spiel stand und dass ich mir nun nicht den geringsten Fehler erlauben konnte. "Die Handschellen können Sie abnehmen.", brachte ich schliesslich hervor. Der Polizist musterte mich kurz skeptisch und kramte dann den Schlüssel hervor. Ich nickte ihm als Bestätigung nochmals zu, worauf er Johns Handschellen öffnete. "Wir sind vor der Tür.", informierte er mich. Kurz darauf hörte ich, wie er die schwere Tür hinter sich ins Schloss zog.

Angeklagt [Bonez MC]Where stories live. Discover now