Kapitel 45

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Isalie

Der Mond stand hoch am Himmel und doch war alles hell erleuchtet. Der Weg wurde von zahlreichen Kerzen beleuchtet, die mich und Lucian tief in den Wald führten. Vor uns lief eine Gruppe weiß gekleideter, junger Mädchen in stillem Schweigen.

Er zögerte einen Moment, doch ich nahm seine Hand, um ihm zu zeigen, dass ich stets an seiner Seite sein würde und er nicht allein war. Er schaute kurz zu mir und dankte mir mit einem kurzen und nervösen Kopfnicken.

„Bist du bereit?"

„Bereit, wenn du es bist." Er drückte meine Hand fest, bevor wir weitergingen.

Er war bereit. Wir waren bereit. Bereit für einen Neuanfang.

Es war neu für mich. Das alles hier. Werwölfe hatten eine eigene Tradition, die eine Beerdigung darstellen sollte – es wird hier wohl eher Trauerritual genannt. Es wird sich hier nicht nur von dem alten Alpha verabschiedet, sondern von allen, die wir im Kampf tragischerweise verloren hatten.

„Bedenke, ein Ende bietet uns oft die Chance auf einen wunderbaren Neuanfang.", gab ich ihm noch mit auf dem Weg, bevor unser Gang auf einer wunderschönen Lichtung sein Ende fand.

Ich staunte. An den Bäumen hingen zahlreiche Lampions, die die Nacht vertrieben. Es war taghell und doch so anders. Ungewohnt und doch so wundervoll.

Nicht nur die Mädchen vor uns waren vollkommen in weiß gekleidet. Nein – alle trugen weiß. Ein Zeichen des Neuanfangs. Ein Zeichen der Erleuchtung und Klarheit. Ein Zeichen, friedlich mit dem Vergangenen abzuschließen – ohne Reue zurückzublicken und offen für Neues zu sein.

Ich blickte auf den Weg, der vor mir lag. Er war übersäht mit zahlreichen Rosenblättern, die erst am Fuße eines großen Baumes endeten. Es war ein besonderer Baum – wurde mir gesagt. Er war der älteste Baum dieses Waldes. Hier an dieser Stelle, wo ich in genau diesem Moment stehe, wurde mein Rudel gegründet. Seitdem gilt er als heiliges Zeichen. Ihm haben wir unsere Kraft zu verdanken, mit der wir jeden Tag erwachen – laut einer uralten Sage.

Mein Staunen wurde mit jeder weiteren Sekunde, die verstrich, größer. Mein Blick führte mich an den Rand, an dem sich alle Rudelmitglieder versammelt hatten. Jeder trug entweder Blumen oder eine erleuchtete Kerze in seinen Händen. Ihre Köpfe waren nach unten gerichtet, um ihre Trauer zu beteuern.

Langsam gingen Lucian und ich zum Fuße des besagten Baumes, an dem die Stammesälteste bereits auf uns wartete. Mit jedem Schritt, den ich tätigte, wuchs der Baum in meinen Augen. Er schien so mächtig und unbesiegbar.

Trotz dessen dass es nur ein Baum war, hatte ich Respekt. Respekt vor der Kraft, die in ihm zu stecken schien. Respekt vor der Kraft, die ich immer deutlicher in meinem Inneren spürte.

Die Heilerin empfing uns mit einem Gebet. Ein Gebet, welches ich nicht verstehen konnte. Die Sprache, in der es geschrieben wurde, kam mir nicht bekannt vor. Da ich viele Sprachen kannte und auch sprechen konnte, wenn auch bruchstückhaft, stutzte ich. Lucian bemerkte mein Stocken und beugte sich zu mir hinunter.

„Es ist eine uralte Sprache, die früher in vielen Rudeln gesprochen wurde. Noch heute werden zahlreiche Gedichte und Sprüche aus dieser Zeit verwendet. Kleine Kinder lernen sie schon in frühen Jahren.", flüsterte Lucian mir leise ins Ohr und ich verstand.

Nach einem kurzen Nicken fokussierte ich mich wieder auf die kleine Frau vor mir. Ich schloss meine Augen und sog die Worte regelrecht auf. Ich konnte sie zwar nicht deuten, doch ich versuchte es. Ich stellte mir vor, was sie bedeuteten und welche Gefühle sie in mir auslösen sollten.


Eng an Lucians Brust gedrückt wachte ich am nächsten Morgen auf. Sonnenstrahlen kitzelten mich im Gesicht, als ich mich auf den Rücken drehte und all meine Glieder von mir streckte.

„Guten Morgen, Isi.", begrüßte mich Lucian mit einem Grinsen.

„Wow, schon so früh gut gelaunt?"

„Natürlich, wenn man aufwacht und dich neben sich sieht, kann man ja nur gute Laune haben.", gab er mit einem verschmitzten Lachen zurück.

Als Antwort verhaute ich ihn mehrmals mit meinem Kissen, dass ich mir schnell gegriffen hatte, bevor er verstand, was ich vorhatte und mich aufhalten konnte.

Als Gegenangriff legte er sich auf mich. Bei seinem Gewicht brach ich kläglich auf seinem Bett zusammen und konnte mich nicht mehr bewegen. Jämmerlich schrie ich scherzhaft nach Hilfe, ohne wirklich welche zu erwarten.

Nach langem Flehen gab er nach und drückte mir einen kurzen Kuss auf die Lippen, bevor er von mir kletterte und nach seinem Handy griff, welches auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Bett lag. Als sein drückendes Gewicht auf meinem Körper seine Wirkung verlor, atmete ich erleichtert auf und ich beschloss, mich stattdessen auf seinen Rücken zu legen. Nachdenklich betrachtete ich sein Handy und die vielen Nachrichten, welche auf diesem bereits zu sehen waren.

„Na, was steht heute an?", fragte ich ihn interessiert.

„Sehr viel. Ich werde mich mit meinem inneren Rat treffen und ein paar wichtige Entscheidungen treffen müssen. Hast du...?", versuchte er die Frage zu stellen, von der er nach wie vor eine Antwort verlangte.

„Nein, Luc. Gib mir Zeit." Lucian hatte mir gestern die Frage gestellt, ob ich nicht Mitglied in seinem inneren Kreis sein wollte, doch ich konnte ihm noch keine Antwort geben.

Das alles hier war noch so unglaublich neu für mich und ich hatte keinerlei Erfahrungen in diesem Thema. Außerdem hatte ich genug zu tun. Ich wollte Kyra helfen. Kyra. Bei dem Gedanken daran, dass sie sich bald verwandeln würde, wurde mir schlecht.

Das alles war nur meine Schuld. Ich wollte sie beschützen, doch ich hatte versagt. Ich trug die Schuld an ihrer Misere. Ich musste sie unterstützen, da ich nicht wollte, dass sie so etwas alleine durchmachen muss. Niemand sollte das...


Nachdenklich verließ ich die Hütte der Heilerin. Schon vor Stunden hatte ich mich dazu entschieden, Kyra zu besuchen, die nach wie vor von der Stammesältesten überwacht wurde. Man konnte schon erkennen, dass ihre Wunden immer schneller verheilten.

Das Gift, welches nun durch Kyras Körper floss, zeigte nun endlich seine Vorteile. Die Heilerin wollte sie zumindest so lang bei sich behalten, bis sie sich verwandeln würde, was laut ihrer Aussage nicht mehr lang dauern würde.

Kyra würde bald wie ich sein. Ein Werwolf. Ein kaltblütiges Tier, das alles um sich herum töten konnte, wenn es außer Kontrolle geraten würde. Ich hoffte so sehr, dass Kyra niemals solche Erfahrungen sammeln müsste, wie ich es getan hatte.

Nur langsam erklomm ich die Stufen der Veranda, auf der Lucian mich bereits zu erwarten schien. Er lehnte am Geländer und schaute auf das weite Feld, das vor ihm lag. Ich gesellte mich neben ihn. Man konnte sehen, wie zahlreiche Werwölfe einen Neuanfang wagten. Sie vernichteten die Erinnerungen an den schrecklichen Kampf oder sie versuchten es zumindest. Alles werden wir nie vergessen, da wir schreckliche Verluste erlitten hatten, doch wir blickten positiv gestimmt in die Zukunft. Eine Zeit, die vor uns liegt und die niemand bewusst beeinflussen kann.

„Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Es wird gesagt, dass ich für andere Rudel gefährlich werde, wenn ich meine Mate gefunden habe. Diesen Kampf gab es nur unseretwegen. Sie wollten uns töten, weil sie Angst hatten, dass unsere gemeinsame Verbindung zu stark wäre...", unterbrach Lucian meine Gedanken und legte eine Hand an meinen Rücken.

„Was willst du mir damit sagen?", unterbrach ich ihn. Fragend schaute ich in seine Richtung.

„Da ich jetzt Alpha bin, brauche ich jemanden an meiner Seite und ich würde mich freuen, wenn du dieser Jemand bist, Isalie Jean Wood."


Danke fürs Lesen. Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen. Über eure Meinung würde ich mich sehr freuen, also lasst gerne ein Kommentar oder ein Vote da. Lots of Love, Larissa <3


Wolfsmädchen - Im Schatten des WaldesWhere stories live. Discover now