späte Einsicht

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„Hast du völlig den Verstand verloren?", herrschte Lissa ihren Kollegen an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Nachtluft kühlte ihre vor Scham brennenden Wangen. Ausgerechnet vor Donn hatte sie sich erschreckt, sich zum Narren gemacht. Doch was lauerte der Mistkerl ihr hier im Park auf?

„Rege dich ab", brummte er anstelle einer Entschuldigung. Das Mädchen ballte die Fäuste. Jedes Mal, wenn er sich zuvorkommend verhalten hatte, zerstörte er den positiven Eindruck wieder. „Du solltest dich eh nicht nachts allein hier herumtreiben. Das ist zu gefährlich für dich", setzte er dem Ganzen noch eine Krone auf. Lissa knirschte mit den Zähnen, überlegte einen Moment, ob sie ihm für seine Worte gegen ein Schienbein treten oder ihn wie ein tollwütiger Hund in den Hals beißen sollte.

„Das kann dir doch egal sein", knurrte sie. „Was willst du überhaupt hier? Kannst du mich nicht einmal in Ruhe lassen?"

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Dein Vater...", Donn brach ab, wich vor dem Mädchen zurück. „Ach vergiss es." Er wandte sich zum Gehen. „Wir sehen uns in der Firma." Mit langen Schritten lief er den Pfad entlang zum Ausgang des Parks. Was hatte er angedeutet? Wusste er, wie es um ihren Vater stand? Da haute er einfach ab? Lissa rannte ihm hinterher. Über den Weg, durch das alte Tor, weiter auf dem Bürgersteig, auf dem ihre Schritte durch ihre Sneaker gedämpft widerhallten.

„Bleib stehen!", rief sie ihm zu. Wieso war der Mistkerl nur so schnell?

„Entscheide dich mal." Der Kollege hielt an, drehte sich abrupt zu ihr um. Sie knallte ungebremst gegen seine harte Brust, kam ins Straucheln. Ein Arm schlang sich um ihren Körper, verhinderte, dass sie auf dem Boden mit dem Gesicht voran landete. „Aber Entschlüsse sind nicht deine Stärke, nicht wahr? Nicht, wenn es einzig um dein Wohl geht. Triffst du eine Entscheidung für jemand anders, kein Problem." Er zog sie enger an sich heran, pustete ihr eine Haarsträhne von der Wange. „Vater hat recht, es ist meine Schuld."

„Was meinst du damit?" Entgegen ihrem ersten Impuls, gegen die Umarmung anzukämpfen, kuschelte sie sich stattdessen an ihn. Wärme hüllte sie ein wie eine dicke Winterdecke.

„Das erfährst du schon noch." Donn beugte sich vor, seine Lippen berührten sanft ihre Stirn. „Komm, du solltest zurück ins Haus gehen, damit du nicht krank wirst." Er löste sich vorsichtig von ihr, führte sie behutsam den Weg zu ihrem Elternhaus entlang. Die Aussicht, dort gleich allein in ihrem Zimmer zu sitzen, ließ sie frösteln.

„Kannst du mich nicht lieber mitnehmen?" Lissa presste die Kiefer aufeinander, starrte missmutig auf die Eingangstür.

„Nein, kann ich nicht. Deine Eltern würden sich wundern, wo du abgeblieben bist. Sie sollten sich nicht sorgen, sondern stattdessen die Zeit genießen." Er hob sie hoch, trug sie zum Eingang. „Los, geh rein."

„Weißt du, wie es um meinen Vater steht?" All seine Worte, die sanften Gesten wiesen darauf hin. Sie starrte ihn an. Das Mondlicht akzentuierte die Tätowierung in seinem Gesicht. Kleine Schlangen, die sich über seine Haut zu schlängeln schienen. Sie zuckte zusammen, tadelte sich sogleich. Womöglich wieder nur eine optische Täuschung, wie das Standbild im Park. Ein Resultat ihrer Übermüdung und Ängste. Sie gähnte leise, schlug sich die Hand vor den Mund.

„Er ist krank. Das war er bereits, bevor du bei uns angefangen hast. Ich werde meinen Vater bitten, dich einige Tage freizustellen, damit du Zeit mit deiner Familie verbringen kannst. Das College dürfte ebenfalls keine Schwierigkeiten bereiten, wenn man ihnen die Situation schildert." Donn berührte die Tür, die leise aufschwang. Lissa runzelte die Stirn. Hatte sie vergessen, abzuschließen? Und wer hatte ihm von den gesundheitlichen Problemen erzählt? Ihre Eltern hatten ihr gegenüber nichts erwähnt. Kälte griff nach ihrem Herz.

„Bitte bleib." Sie packte seine Hand fest, zog ihn hinter sich her ins Haus. Leise liefen sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.

„Ich schlafe dann mal auf dem Fußboden", murmelte Donn, nachdem er sich umgesehen hatte. Er hängte seine Jacke auf ihren Bürostuhl. „Ein Kissen müsstest du mir aber abgeben."

„Wenn du versprichst, dich zu benehmen, darfst du mit ins Bett." Erschrocken über sich selbst riss sie die Augen weit auf. Nervös linste sie zu ihrem Kollegen, dessen Mundwinkel nach oben zuckten. Er hob eine Hand zum Schwur.

„Ich verspreche hiermit hoch und heilig, dass ich dich heute Nacht nicht verführen werde." Donn ließ den Arm sinken, trat zu Lissa. „Und es tut mir leid, dass ich dich vorhin so erschreckt habe. Ich versuche doch nur, dir abzugewöhnen, dass du dich nachts allein herumtreibst. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert." Er strich ihr sanft über die Haare, zog sie abermals in eine Umarmung. Das Mädchen atmete entspannt ein. Er hatte sich entschuldigt, wenn auch nicht sofort. Doch lieber eine späte Einsicht, als gar keine.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt