Eine letzte Heldentat

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„Sollen wir dich wirklich nicht ins Krankenhaus bringen, Papa?" Lissa kullerten die Tränen über die Wangen. Ihr Vater saß auf seinem Sessel und hustete schwer. Zerknüllte Taschentücher lagen neben ihm auf der Armlehne – rot-weiß-gesprenkelt. Die junge Frau warf einen Blick zu ihrer Mutter, die das Gesicht in den Händen verborgen hielt. Ihre Schultern bebten, während sie leise weinte. „Mama, sag du ihm, dass er unbedingt zu einem Arzt gehen soll."

„Schon in Ordnung, mein Kind." Der Mann keuchte. Deutlich hörte man das Pfeifen seiner Lungen, wie ihn der Husten auszehrte und weiter schwächte. „Er hat gesagt, dass er heute kommt?"

„Wer kommt?" Wieder Geheimnistuerei. Dieses Mal von ihren Eltern, nicht von ihren Kollegen. Wie sie es mittlerweile hasste, dass alle sie im Dunkeln hielten! Ein neuer Hustenanfall schüttelte ihren Vater. Lissa sprang auf und lief zur Garderobe. Gleich darauf kehrte sie mit zwei Jacken zurück. „Ich bringe dich jetzt ins Krankenhaus. Keine Widerrede!"

„Das bringt doch nichts, Schätzchen. Meine Zeit ist abgelaufen." Erneut wischte er sich Blut von den Lippen, das der Husten tief aus seinen Bronchien hinauswarf. „Sieh es bitte ein. Für mich gibt es keine Hilfe mehr."

„Aber..." Mutlos ließ sie sich auf den Fußboden zu seinen Füßen sacken. „Es muss doch etwas geben, dass deinen Schmerz lindert."

„Nur der Tod kann ihn mir noch nehmen, meine kleine Maus." Eindringlich sah ihr Vater sie an. „Du musst heute stark sein – auch für deine Mutter. Der Krebs hat meinen Körper seit langer Zeit zerfressen. Ich hätte schon längst sterben sollen, habe aber immer weiter um Aufschub gebeten, um mitanzusehen, wie du zu einer starken jungen Frau wirst. Ich bin so stolz auf dich, mein Mädchen." Tränen sammelten sich nun auch in seinen Augen. Dennoch schien er mit sich und seinem bevorstehenden Tod im Reinen zu sein.

Lissa schluckte schwer. Einige Schluchzer fanden ihren Weg über ihre Lippen. Sie drückte sich an das Bein ihres Vaters, der ihr sanft über den Kopf streichelte. Eine beruhigende Geste von der Person, die doch am stärksten betroffen war. Ihre Mutter wimmerte leise. Zum ersten Mal war sie nicht mehr die starke Frau, die Lissa von klein an kannte. Die Frau, die sich aufopferungsvoll um ihre Mitmenschen kümmerte, ohne auch nur ein Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Die Krankheit des Ehemannes raubte auch ihr die letzte Kraft.

Eine Weile verharrten sie so beieinander. Die Stille nur durchbrochen von gelegentlichen Schluchzern, dem bellenden Husten des Mannes und seiner pfeifenden Atmung, wenn er krampfhaft nach Luft schnappte. Schwere Schritte rissen Lissa aus ihrer Lethargie. Sie drehte den Oberkörper zur Wohnzimmertür und erstarrte. Zwei hochgewachsene Männer traten ein – zwei Männer, die sie zu gut kannte.

„Es ist Zeit", sprach Hadal. Sein Sohn hielt den Kopf gesenkt. Er wagte es nicht, Lissa ins Gesicht zu schauen. „Einen weiteren Aufschub können wir dir nicht gewähren." Ihr Arbeitgeber warf ihr einen mitleidvollen Blick zu. „Es tut mir leid, Lissa. Das Schicksal deines Vaters stand seit langem fest. Komm bitte her zu mir."

Zögern erhob sie sich und lief auf wackligen Beinen zu ihrem Boss. Väterlich legte er einen Arm um ihre Schulter, spendete ihr Wärme und Trost. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie ihr Kollege sich aufrichtete, regelrecht Haltung annahm.

„Donn, vollbringe deine Aufgabe", wies Hadal seinen Sohn an.

„Halt, noch einen Augenblick." Ihr Vater kämpfte sich in einen aufrechten Sitz, sah flehentlich zu ihnen herüber. „Lissa sollte endlich die Wahrheit erfahren. Sie wird ihr schon so lange vorenthalten." Der Mann wurde abermals von einem so heftigen Hustenkrampf geschüttelt, sodass er sich vor Schmerzen krümmte. „Bitte, sie muss es hören."

„Er hat recht, Vater", murmelte Donn, der kurz zu ihr sah, dann den Blick wieder verbissen auf den Kranken richtete.

Hadal seufzte, führte Lissa zum Sofa. „Nun gut, setz dich lieber." Er wartete ab, bis sie neben ihrer Mutter saß und trat dann zwei Schritte zurück. „Ich hätte es gern für mich behalten, doch irgendwann würdest du eh dahinterkommen. Das, was du gleich hören wirst, wird deine Welt vermutlich gehörig auf den Kopf stellen. Versprich mir, dass du nichts Dummes anstellen wirst und vor allen Dingen nicht die Flucht ergreifst. Vor der Wahrheit kann man nicht davonlaufen."

Lissa nickte zögerlich. Ihr Boss sprach in Rätseln. Wollte er ihr etwa beichten, dass er ihr biologischer Vater war? Sie nur eine weitere Schwester Donns?

„Gut, dann sieh den Wunsch des Mannes, der dich liebevoll großgezogen hat, als seine letzte Heldentat an. Der letzte Kraftakt eines Sterbenden, um für Gerechtigkeit für seine Tochter zu kämpfen."

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt