Lang vergessen

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Stirnrunzelnd schaute Lissa zu, wie ihre Mutter in einem alten Pappkarton herumkramte.

„Es muss hier doch irgendwo sein", hörte sie sie murmeln. Seit dem Vormittag durchforsteten sie Kartons und Schachteln, auf der Suche nach irgendeinem Gegenstand. Was sie suchte, verriet die ältere Frau nicht. Sie verteilte nur fleißig weiter Staub im Raum, wenn sie diesen von Objekten pustete, oder wischte sich eine weitere tote Spinne von den Händen.

„Sollten wir nicht mal eine Pause einlegen?", schlug Lissa schließlich vor. „Was suchst du überhaupt?"

„Eine kleine Schmuckschachtel. Ich hatte sie für dich aufbewahren sollen, bis der richtige Zeitpunkt da war, um dir das Schmuckstück zu übergeben. Dieser Augenblick wird bald eintreffen." Ihre Mutter strich sich eine Haarsträhne von der schweißnassen Stirn. Seit ihrem letzten Besuch hatten sich noch mehr graue Haare hineingemischt. Auch die Sorgenfalten hatten sich vertieft.

Lissa biss sich schuldbewusst auf die Lippe. Sie kam viel zu selten vorbei, verbrachte lieber Zeit mit ihren Kollegen oder lernte nach der Arbeit. Ihre Eltern nahmen es gelassen hin. Vielleicht, weil sie sie mit dem Geld, das sie bei Hadal verdiente, tatkräftig unterstützte. „Ruh du dich aus, ich suche in der Zwischenzeit weiter."

„Das ist lieb von dir. Ich werde uns dann eine Tomatensuppe kochen. Dazu gibt es frisches Baguette und Kräuterbutter. Dein Vater liebt das Essen momentan." In den Augen der Frau glitzerte es verdächtig. Lissa tat so, als ob sie es nicht bemerkte. Ihre Mutter verabscheute es, Schwäche zu zeigen. Lieber überspielte sie ihre Emotionen und half anderen Menschen, wo sie nur konnte. „Ich rufe dich dann, wenn es fertig ist."

„Ist gut, Mama." Lissa robbte an den nächsten Karton heran. Es war ihr ein Rätsel, wo ihre Eltern die Pappkartons zuvor verstaut hatten. Sie schlug den Deckel auf und nieste. Staub kitzelte sie in der Nase. Ihr Blick fiel auf eine weitere tote Spinne, die halb zusammengerollt obenauf lag. „Das ist hier der reinste Spinnenfriedhof", brummte sie, nachdem ihre Mutter den Raum verlassen hatte. Vorsichtig hob sie die Sachen heraus und stapelte sie neben sich auf dem Fußboden. Staubsaugen war nach dieser Aktion mehr als angebracht, dachte sie trocken.

Etwas löste sich unter einem großen Buch, als sie es hochhob und flatterte ihr auf den Schoß. Neugierig öffnete sie den Umschlag und zog Fotos aus ihrer Kindheit hervor. Auf einigen saß sie mit ihrer Großmutter im Park bei den Blumen. Die alte Frau schien dem kleinen Mädchen zu erklären, um welchen Blumensorten es sich handelte. Das meiste hatte Lissa längst vergessen. Nicht so die Begeisterung ihrer Oma für Rosen. Sie verzog das Gesicht und steckte die Bilder zurück in den Umschlag. Verflixte Rosendornen.

Erneut inspizierte sie den Karton. Er war leer, nur eine Ecke des Bodens stand empor. Lissa runzelte die Stirn. Hätte der Inhalt mit seinem Gewicht nicht dafür sorgen müssen, dass nichts hochstand?

Sie zerrte die Pappe noch etwas höher und bemerkte den Gegenstand, der sich darunter verklemmt hatte. Schnell zog sie ihn heraus. Eine quadratische Plastikschachtel, die typisch für Schmuckschachteln war. Die hatte ihre Mutter aller Wahrscheinlichkeit nach gesucht. Sie widerstand dem Impuls, hineinzusehen, und legte sie zur Seite. Dann packte sie die anderen Sachen zurück in den Karton. Dabei entdeckte sie ein Kinderbuch, das sie zuvor übersehen hatte. Liebevoll strich sie über den zerknitterten Buchumschlag. Oh wie hatte sie die Geschichte geliebt. Der Grinch war einer ihrer absoluten Favoriten gewesen. Das Buch hatte einst ihrem Vater gehört und ihre Großmutter hatte ihr daraus vorgelesen, bevor sie zur Schule kam. Danach gehörte es in jeder Vorweihnachtszeit zu den Dingen, die sie auf Weihnachten einstimmten. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Lang vergessen und doch wiedergefunden. Lissa legte das Büchlein zu der Schmuckschachtel und schloss den Karton. Sie wischte die staubigen Hände an ihrer Hose in dem Moment ab, als ihre Mutter sie zum Essen rief. Einen letzten Blick auf die Sachen werfend lief sie aus dem Zimmer, um sich die Hände zu waschen und ihren Eltern Gesellschaft zu leisten. Wer konnte schon sagen, wie lange sie beide noch hatte.

Sie atmete tief durch. Womöglich gab sie ungeachtet ihres ursprünglichen Plans doch Donn Bescheid, damit er vorbeikam und ihr Trost spendete.

Dem Tode zu naheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt