55°*

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Seit über einer Woche verstecke ich mich hier, in meinem eigenen Zuhause, gefangen in einer endlosen Spirale aus Selbstmitleid und Hoffnungslosigkeit.
Die Tage verbringe ich damit, stundenlang die blumigen Muster der Tapete anzustarren, die ich einst mit Begeisterung  ausgewählt hatte, als Emelie und ich zusammengezogen sind.
Doch jetzt ertrage ich den Anblick nicht mehr, er erinnert mich nur an schöne Zeiten, die der Vergangenheit angehören.

Emelie ist es, die mich immer wieder aus meiner Trostlosigkeit reißt.
Ohne sie würde ich wahrscheinlich ununterbrochen im Bett liegen, in die Leere starren und vor mich hin miefen.

Tyler und die anderen meide ich konsequent.
Ich kann es nicht ertragen, ihnen gegenüberzutreten, mich den Blicken und dem ungesagten Urteil auszusetzen. Gabe ist der Einzige, der regelmäßig vorbeischaut, sich erkundigt, wie es mir geht, während der Rest meiner sogenannten Familie sich kaum dafür zu interessieren scheint, was aus mir wird.

Gabe versorgt mich mit Neuigkeiten von außen, erzählt mir von der Auseinandersetzung zwischen Tyler und Luca, die ausgebrochen war, nachdem Ty erfahren hatte, was mir Luca angetan hat.
Und obwohl meine Unschuld durch Daniel und Paul bestätigt wurde, bleibt Tylers Wut auf mich unvermindert.

Ich schaffe es nicht, meinem eigenen Bruder in die Augen zu sehen, ohne von Tränen übermannt zu werden.
Es wird noch viel Zeit vergehen müssen, bis ich das Geschehene verarbeiten kann.
Und Tyler hat nicht ein einziges Mal gefragt, wie es mir geht.
Langsam heilen die Wunden auf meinem Rücken, dank Emelies Fürsorge täglich drüber zu sehen und alles zu reinigen.
Der körperliche Schmerz lässt nach, doch bei jeder unachtsamen Bewegung zucke ich noch zusammen.

Was Jason betrifft, so herrscht Funkstille zwischen uns.
Ich ignoriere seine Anrufe und Nachrichten beharrlich, obwohl er es jeden Tag aufs Neue versucht.
Ein störrischer, stolzer Teil von mir hält mich davon ab, das Gespräch zu suchen, so sehr ich es auch möchte.

Das Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen düsteren Gedanken und erblicke Emelie die im Türrahmen lehnt.
Ihr Blick fordert mich heraus. »Ich habe uns etwas zum Essen gemacht«, sagt sie mit einer Stimme, die keine Einwände duldet.

Widerwillig folge ich Emelie in die Küche, getrieben von der stillen Hoffnung, vielleicht doch etwas Appetit zu entwickeln. Ich weiß, dass ich ohne ihre ständige Fürsorge wahrscheinlich keinen Bissen herunterbekommen hätte. In den letzten Tagen hätte ich mich ohne sie vermutlich nur weiter in meiner Traurigkeit verloren. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich in solchen Zeiten das Essen vollständig meide und merklich an Gewicht verliere – genau das, was Luca immer wollte.

Der Duft von frisch gekochtem Reis und Gemüse empfängt mich, und wider Erwarten regt sich ein Anflug von Hunger in mir.

Emelie hat den Tisch liebevoll gedeckt, mein Lieblingsessen zubereitet, als könnte sie damit etwas von dem alten Glanz unserer Freundschaft wiederherstellen. Ich setze mich, betrachte die liebevolle Anordnung der Speisen und lasse mich widerstrebend darauf ein, zu essen.

»Hat er sich eigentlich nochmal gemeldet?«, bricht Emelie das Schweigen, und sofort ist mir klar, dass sie Jason meint.

»Wer?«, erwidere ich, obwohl ich genau weiß, auf wen sie anspielt, und nehme einen Bissen, um Zeit zu gewinnen.

»Jason«, sagt sie und sieht mich mit einem Blick an, der keine Ausflüchte duldet.

Ich schüttle den Kopf, verschweige, dass er mich unermüdlich zu erreichen versucht.

»Seltsam den vorhin habe ich einen Anruf von ihm bekommen und er hat nach dir gefragt«, gibt sie zu und ihre Augenbrauen wandern fragend nach oben.

Ich bleibe stumm, weiche ihrem Blick aus, während ich mich frage, warum sie Partei ergreift, sich auf seine Seite zu stellen

GangbattleWhere stories live. Discover now