NEUN

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Als Misa ihre Augen öffnet, schnappt sie direkt nach Luft. Im nächsten Moment überfällt sie ein starker Husten. Sie umklammert ihre Brust und benötigt etwas Zeit, bis sie genug Kraft hat, um sich umzuschauen. Als sie aufsieht, erkennt sie, dass sie in einer einfachen Hütte ist. Weder weiß sie, wo sie gelandet ist, noch wie sie hierhergekommen ist. Das Letzte, woran sie sich erinnern kann, ist ein Stich in ihrer Brust und die Dunkelheit um sie herum, die sie jeden Moment zerfressen hätte.
Doch der Schmerz, den sie unter Wasser spürte, ist wie vergessen, als wäre dieser nie gewesen. Das Letzte, was noch übrigbleibt, ist der Husten und die Angst. Die Angst davor, wo Ean ist und wie es ihm geht.

Misa springt auf und möchte die Hütte verlassen, doch die Tür öffnet sich von außen und ein Mädchen kommt mit einer Schüssel in der Hand durch die Tür. Misa zuckt zurück und auch das Mädchen erschreckt sich. Ihre Haut ist von der Sonne geküsst und ihre schwarzen Locken trägt sie halb offen. Misa kann den Blick nicht von ihr lassen. Dieses Mädchen hat irgendwas, was Misa direkt in den Bann zieht.
Die Schwarzhaarige stellt die Schüssel neben dem Heu ab, auf dem Misa bis gerade noch schlief, und verlässt die Hütte wieder, ohne etwas zu sagen.
Es dauert nicht lange und sie kehrt mit einem älteren Mann zurück. Während das Mädchen Misa mit einem ernsten Blick anschaut, hat er ein Lächeln auf den Lippen.

„Wo ist Ean?" Mit Wut entkommen diese Wörter Misas Lippen. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt und sie hat das Gefühl, jeden Moment vor Sorge zu ersticken. Das Mädchen schaut emotionslos zu ihr. „Er schläft noch", und aus dem Nichts fühlt Misa eine Erleichterung in der Brust. Sie kann endlich beruhigt ausatmen.
„Lurra hat euch beide aus dem Gewässer gefischt", erläutert der alte Mann und setzt sich auf ein Stuhl, der in der Ecke des Raumes steht. Lurra also ...
„Genauso wie dieses Buch", fügt er hinzu und legt es auf den Tisch. Sie erwartet es nun auch wegschmeißen zu können, doch alles ist ganz. Das Buch scheint nie im Wasser gewesen zu sein.

„Wie ist das möglich?", murmelt Misa verwundert vor sich hin. Lurra setzt sich, mit überkreuzten Beinen, auf das Heu bedeckte Bett und stützt sich mit ihren Händen ab.
„Genauso, wie dass ihr beiden überhaupt noch lebt", gibt sie mit einer kalten Stimme von sich.
„Hätte mein Großvater nicht erwähnt, dass ihr an diesem Tag ankommen würdet, hätte ich euch beide einfach ertrinken lassen." Misa steht still da und versucht alle Gedanken zu sortieren.
„Wie lange war ich weg?" Lurra überlegt kurz.
„Heute ist der fünfte Tag", erläutert sie. Der alte Mann sitzt weiter auf seinem Stuhl und blättert durch das Buch.
„Es freut uns alle sehr im Dorf, dass ihr endlich da seid, Prinzessin." Misa schaut direkt überrascht zu ihm auf. Wurden sie erwartet? Hat Lurra die beiden deshalb gerettet?
„Ich brauche Erklärungen. Wisst ihr, was es mit dem Buch auf sich hat?", fragt Misa endlich das, weshalb sie überhaupt hier ist. Der Mann lächelt auf die Frage hin, als hätte er sein ganzes Leben darauf gewartet.

„Dieses Buch ist eure Prophezeiung. Prinzessin, auch wenn es für euch schwachsinnig klingen wird, ihr seid die Wiedergeburt des Lichts. Die Wiedergeburt Freyas. Ihr seid das, was das Königreich wieder in die Richtung verleiten wird, in die sie gehört. Ihr seid diejenige, die das Gleichgewicht wieder herstellen wird!" Er macht eine Pause, geht auf Misa zu und legt seine Hände auf ihre. Er ist schon alt und von einem ehemals großen Mann bleibt nur noch ein kleiner alter weißbärtiger Herr übrig.
Er muss vom Nahen zu Misa hochschauen, um ihr direkt in die Augen gucken zu können. „Auch wenn es euch nicht so erscheint, ihr seid die rechtmäßige Thronerbin."
Misa schaut den Herren vor sich geschockt an. Die Wörter bleiben ihr im Hals stecken und sie bekommt kein Wort mehr raus.
Wo ist Ean, wenn ich ihn brauche? ...

Sie fühlt sich fehl am Platz. Verwirrt. Leer. Aber auch verstanden. So als hat sie im Inneren immer gedacht, das da mehr ist. Sie kann sich an ihre Gedanken erinnern, als sie hilflos im Wasser war. Daran, dass sie sich für einen Moment, mit einem gewöhnlichen Leben, zufriedengegeben hätte. Noch bevor sie hier waren, war Misa bewusst, dass sie niemals komplett frei sein kann. Sie gehört nach Celestia, doch im selben Moment ist sie dort, durch ihren eigenen Bruder in Gefahr.
Misa hat sich nie getraut, sich überhaupt Gedanken darüber zu machen, den Thron zu wollen, denn es wäre Hochverrat. Doch ein Gefühl von Neid empfand sie zu ihrem Bruder trotz allem.
Es ist nicht so, als könnte sie zurück nach Hause und behaupten, sie wäre Freya. Eine bloße Legende. Sie ist Misa Lewenstein, die letzte rechtmäßige Erbin der Lewenstein Familie. Das letzte Kind einer Hierarchie, die nun durch das Blut eines Bastards ersetzt wird und sie kann nur zuschauen.

Das Buch ist das, was ihr diesen Weg offenbaren kann, ihr vielleicht sogar die Wahrheit zeigen kann. „Doch was bringt es mir, wenn ich es nicht lesen kann!", ärgert sich Misa im Kopf über sich selbst.

„Großvater, magst du uns kurz allein lassen?", bittet Lurra den alten Mann. Er nickt und verlässt die Hütte. Erst jetzt sieht Misa die ganzen Fläschchen an den Wänden hängen. Kräuter sind verteilt an den Wänden im Zimmer und auf der anderen Seite steht ein großer Topf, der mit Wasser gefüllt ist.
„Darf ich euch bei Namen nennen?" Misa antwortet ihr mit einem Nicken. Sie war nie abgeneigt davon gewesen, dass man sie bei ihrem Namen nennt. Zumindest in den meisten Fällen. Wenn sie jemandem nicht erlaubte, sie beim Namen anzusprechen, war es, weil sie die Person nicht mochte oder sich dieser höher stellen wollte.
Doch nun sitzen zwei Mädchen, die dasselbe Alter haben, nebeneinander auf einem Bett, das mit Stroh übersät ist. Misa fühlt sich zum ersten Mal einem Menschen auf so einer Ebene gleichgestellt.

„Mein Großvater spricht gerne große Worte, ohne einen Sinn dahinter zu erklären", erläutert sie mit einem Seufzen. „Er hat recht mit dem, was er sagt, doch es steckt mehr dahinter."

Sie steht auf, nimmt sich das Buch und setzt sich zurück zu ihr.
„Das nächste Kapitel ist in unserer Muttersprache geschrieben. Meine Familie hat sich diese Seiten seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben. Mein Großvater wartet inzwischen schon sein Leben lang darauf, dass Freya wiedergeboren wird. Die Seiten erzählen nicht, wie sie es schaffen wird, geschweige denn wann oder wer diese Wiedergeburt sein wird", Lurra atmet tief aus und schaut zu Misa. Mit ihrer Hand geht Lurra sich durch ihre lockigen Haare.
„Aber deine Haare sind etwas, was es nur einmal gibt. Deswegen vertraue ich meinem Großvater. Und ich vertraue der Prophezeiung. Doch du musst wissen, dazu gehört mehr als bloß die Wiedergeburt Freyas. Hier sind die Götter beteiligt, die etwas anderes als bloß den Aufschwung unserer Hierarchie bezwecken."

The LegacyWhere stories live. Discover now