18 - Clara de Flocon

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Als ich die Treppe herunterkomme, sitzt Joey in einem beigen Cashmere Pullover am Tisch und arbeitet an seinem Laptop. Dabei wirkt er etwas, als wäre er nur ein Schauspieler, den man gecastet hat, um gleich in dem Kaminzimmer der Villa eine Szene aus einem Historienfilm zu drehen. Das einzige, was neben dem Laptop das Bild bricht, ist sein Matcha Latte im wiederverwendbaren weißen Becher, der neben seiner Hand und seiner teuren Uhr vor sich hin dampft.

„Hi", macht er, als er mich sieht, „Guten Morgen."

Ich sage nichts, ziehe nur ein unverbindliches Gesicht, gehe in die Küche und lasse ein paar Orangen durch den Entsafter wandern. Im Kühlschrank steht Matts Fitnessmüsli, das ich ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, klaue. Matt kann mich momentan auf jeder mir einfallenden Ebene gern haben.
Ich stehe einen Moment zwischen Kaminzimmer und Treppe, denke darüber nach, ob ich mich unauffällig wieder verdrücken kann, doch Joey schüttelt den Kopf, als würde er meine Gedanken lesen. Er lächelt entschuldigend, während ich mich ihm gegenüber an den schweren Holztisch setze, an dem Ava mich verhört hat.

„Morgen", sagt Joey, „Hoffentlich hast du gut geschlafen."

„Sag' mir einfach, was los ist, bitte."

Er sieht ein bisschen beleidigt aus und hält so lange Blickkontakt, bis ich mich auch zu einem „Guten Morgen" durchringe.

„Matt ist verschwunden", sagt der Psychologe dann. Es ist eine verbale Ohrfeige, die mich völlig unvorbereitet trifft. Joey sitzt hier einfach vor seiner Zeitung und seinem Laptop, trinkt Matcha durch einen recyclebaren Strohhalm und eröffnet mir, dass der Sunhunter weg ist.

„Wie ... verschwunden?"

„Gestern nacht ist er in die Traumbubble geflogen, um sich mit einer Quelle zu treffen. Er wurde schon beim Einflug verfolgt, aber dann ohne Konfrontation wieder in Ruhe gelassen. Das Treffen mit der Quelle fand so statt, dass die Hunter ihn nicht tracken konnten. Und dann ist er nicht mehr aufgetaucht."

Ich spüre, wie mir langsam aber sicher das Herz in die Hose rutscht. Zuerst war ich nicht direkt beunruhigt, denn wie ich Matt kenne, hat er kein Problem damit, sich absichtlich von der Bildfläche wegzuradieren, wie einen Bleistiftstrich. Doch da draußen ist jemand, der eine Sunhunterin umgebracht hat. Und jetzt ist Matt nicht einfach verschwunden, sondern so vom Core verschluckt, dass ihn nicht einmal das Department aufspüren kann.

„Du machst Witze."

Joey sieht mich an. Schüttelt den Kopf. Angst kriecht in mir hoch, unaufhaltsam und dunkel.

„Ava ist dabei, ihn zu suchen."

Ich fluche.

„Wer hat ihn verfolgt?"

„Man hat keine Watch Signatur abgreifen können."

„Du verarschst mich doch! Jeder hat eine gottverdammte Watch Signatur, sogar Matt, wenn er im Core ist!"

Mitleid schleicht sich in Joeys Miene.

„Noch ist nichts verloren."

„Er könnte tot sein. Willst du mir das sagen?"

„Das können wir momentan nicht ausschließen."

Ich stütze den Kopf in die Hände. Entsetzt und aus irgendeinem Grund noch wütender auf Matt, als zuvor. Was fällt ihm ein, sich einfach in Luft aufzulösen?

Joey greift nach meiner Hand. Wahrscheinlich ist das irgendein Psychologentrick, um mich zu beruhigen.

„Wir warten jetzt einfach, bis Ava uns benachrichtigt und dann ..."

„Ja genau", sage ich, ziehe meine Hand weg und stehe auf, „Wir warten jetzt brav hier, während Matt irgendwo gefoltert wird", ich nehme meine Jacke von der Garderobe, „Und frühstücken erstmal ganz entspannt. Hast du nen Knall?"

Joey blinzelt mich an, dann steht er ebenfalls auf.

„Clara, das ist keine gute Idee. Du hilfst niemandem damit, wenn du dich jetzt in Gefahr begibst. Du kennst die Bubble nicht und du hast keinerlei Daten zu dem Fall."

„Ja, deswegen warten wir ja auch ganz brav, bis Ava uns benachrichtigt", sage ich und lege mir meinen Schal um den Hals.

„Wieso ziehst du dich dann an?"

„Spaziergang", mache ich herausfordernd.

„Hast du nicht eine Prüfung in zwei Stunden?", fragt Joey zurück.

Ich sehe auf meine Uhr.

„Und?", frage ich, bücke mich, um meine Schuhe zu binden, „Du denkst, mir ist das wichtiger, als Matt zu suchen?"

„Dein Stipendium ist notenabhänhgig. Es steht auf der Kippe, wenn du das tust."

„Ist mir egal", sage ich, obwohl es nicht stimmt, „Ava hat gesagt, sie kann mir das Ding wegnehmen, also kann sie auch dafür sorgen, dass ich es behalte."

Ich strecke die Hand aus: „Such's dir aus: gibst du mir eine Waffe, oder kommst du mit?"

„Für deinen Spaziergang?"

„Joey", grolle ich.

„Ich darf dich nicht aus dem Haus lassen."

Meine Augen werden schmal.

„Was meinst du damit?"

„Das Department hat genug um die Ohren. Wir können nicht auch noch dich babysitten."

„Genau das tust du doch gerade. Mich babysitten. Obwohl ich schon fünfmal gesagt habe, dass du das lassen sollst."

„Zwing mich nicht, handgreiflich zu werden."

„Jetzt hab ich aber Angst."

Ich habe keine Ahnung, ob ich es mit Joey aufnehmen könnte. Wenn er für das Department arbeitet, hat er sicher irgendwelche physischen Fitnesstests absolviert. Doch ich war Rekrutin in einem Programm, das die härtesten Soldaten der Föderation hervorbringt – und ich habe mit Matt trainiert.

„Joey", knurre ich, binde die zweite Schleife meines Sneakers fertig und komme auf die Beine, „Das willst du nicht."

Der Psychologe hat sich inzwischen mit einem langen Schritt zwischen mir und der Tür platziert. Er ist gut in Form und geht sofort in Verteidigungshaltung.

„Du trägst eine Brille", sage ich unnötigerweise, „Wenn ich dich ausschalten wollte, müsste ich dir einfach die Brille von der Nase schlagen und du wärst blind."

Er antwortet nicht. Kopfschüttelnd lasse ich die Arme sinken und vergrabe die Hände in den Taschen. Dann stürze ich mich unvermittelt auf ihn.
Joey will mich packen, mir die Arme auf den Rücken drehen und mich in einem typischen Polizeigriff sichern. Ich sehe mich schon mit der Wange an die weiße Wand gepresst im Flur stehen. Doch so leicht wird das nicht.

Wir gehen zu Boden, stolpern über ein paar Schuhe, das im Flur steht. Wahrscheinlich sind es Joeys Schuhe, denn er trägt nur Socken. Schwerer Fehler.
Ich bin zwar deutlich kleiner und weniger stark, aber im Vergleich zu Matt ist Joey ebenfalls leicht. Zwar liegen unsere Trainingsrunden im Bauch des Kreuzers schon einige Zeit zurück, doch vergessen habe ich sie nicht. Und mit dem Mut der Verzweiflung ramme ich mein Knie aufwärts, lande einen Treffer mit der geballten Faust und schicke ihn letztendlich zu Boden. Der Psychologe stöhnt auf und beschimpft mich laut.

Erst, als ich mich umdrehe, um zur Tür hinaus zu rennen, bemerke ich, dass diese weit offen steht. Im Türrahmen lehnt lasziv grinsend und mit beeindrucktem Gesicht niemand anderes, als das Ziel meiner Rettungsaktion.

„Aber hallo", sagt Matt, der augenscheinlich verschwitzt und müde, aber unverschämt glücklich über den sich bietenden Anblick, in schwarzer Motorradkluft aus dem Nichts aufgetaucht ist, „Das war ein sehr schöner rechter Haken für eine Studentin."

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Starshakers (Sunhunters pt. 2)Where stories live. Discover now