Prolog

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2009

„Rafael?" Ich sollte zurück zur Arbeit fahren, stattdessen telefonierte ich.

Ein Schluchzen war die Antwort. Es war ganz sicher Rafael, der jetzt zittrig einatmete.

„Rafael? Rede mit mir. Was ist los?"

Er war immer schon eine Heulsuse gewesen, aber das war extrem.

Während ich wartete, bis er zu Atem fand und reden konnte, schielte ich zum Autoradio. Schon wieder folgte die Durchsage, dass die Schnellstraße in beide Richtungen gesperrt war und man einen Umweg fahren musste. Wieder redete der Sprecher über den Unfall.

„Wie wir eben erfahren haben, hat sich die Zahl der Toten auf elf erhöht. Bisher gibt es keine Erkenntnisse, wie es zu dem schrecklichen Unfall kommen konnte."

Rafael hustete, was meine Aufmerksamkeit zurück auf ihn legte. „Du ..." Er schluchzte erneut und holte hörbar tief Luft.

„Was ist mit mir? Rafael, wo bist du?"

„Krankenhaus", ließ er mich nach mehreren Ansätzen wissen.

„Was? Warum?" Mein Herz schlug prompt schneller und ich richtete mich hinter dem Steuer auf. Mit seinen Schluchzern keimte er Angst in mir. Krankenhaus und sein Auftreten bedeuteten keine guten Nachrichten.

„Lenya ..."

Ihr Name reichte aus, dass ich das Radio ausschaltete und mich auf Rafael fokussierte. Ich bekam Angst, hatte tausend Fragen und wusste, ich durfte nicht aus meiner Haut fahren. Rafael würde nicht reden, wenn ich ihn bedrängte. Er würde nicht zu Wort kommen, wenn ich jetzt anfing zu reden.

„Sie war ..." Rafael schniefte. „Lenya war in dem Bus."

„In dem Bus?", wiederholte ich wispernd und griff mit der freien Hand in meine Jeans. Seit dem Vormittag sprach man im Radio über nichts anderes. Ein Unfall mit einem Bus. Es gab Tote. „Heute Vormittag?", fügte ich hörbar panischer hinzu.

Als Antwort bekam ich einen zustimmenden Laut, der in einem Schluchzen unterging. Dann war seine Stimme fort.

„Ich bin's", ertönte es. Rafaels Vater. Er klang genauso tränenreich wie sein Sohn. Natürlich tat er das. Seine Tochter hatte in dem verunglückten Bus gesessen.

„Was ist mit Lenya?", stieß ich aus.

„Sie wurde mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus eingeflogen und liegt im OP", erklärte er so ruhig wie möglich, dennoch geriet er kurzzeitig ins Stocken. „Es sieht nicht gut aus. Man hat uns vorhin gesagt, dass niemand weiß, ob Lenya lebend aus der Operation kommen wird."

Ich schnappte nach Luft.

„Könntest du bitte Vincent und Kai Bescheid geben? Hier ist das Telefonieren verboten."

„Ich komme zu euch", entschied ich, denn zurück zur Arbeit konnte ich unmöglich fahren. Es interessierte mich nicht, dass ich zuerst meinen Chef anrufen sollte, um ihm zu sagen, dass ich nicht aus der Mittagspause zurückkommen würde. Das Handy befestigte ich an der Halterung am Armaturenbrett und suchte Vince in der Kontaktliste heraus. Sobald ich den Lautsprecher eingeschaltet hatte, startete ich den Motor und fuhr aus der Parklücke heraus.

Lenya.

Lenya.

Lenya.

Ich musste zu ihr.

Verloren - Zurück im LebenWhere stories live. Discover now