16 - Akio

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Das Diamonds hatte in den letzten Jahren keine Veränderung erlebt. Wenn überhaupt, war der Schuppen noch heruntergekommener geworden. Vor zehn Jahren waren mir die Dealer nicht aufgefallen, die in den dunklen Ecken ihren Stoff verkauften. Jetzt bemerkte ich sie, bevor sie mit jemandem redeten. Irgendwann kannte man die Gesichter. Irgendwann hielt man sich bewusst von diesen Ecken fern.

Rafael saß an der Bar und umklammerte eine Flasche Bier. Er machte aus der Ferne einen abwesenden Eindruck, was mich unweigerlich an den Jungen von damals erinnerte, der im Krankenhausflur um seine Schwester geweint hatte.

Ich ging zu ihm und setzte mich auf den Hocker neben Rafael. Mit der Hand gab ich dem Kerl hinter Bar zu verstehen, dass ich das gleiche wie mein Nebenmann wollte.

„Was ist los?", fragte ich gleich nach. Letztlich war es Rafael gewesen, der mich hierher bestellt hatte, obwohl er mir aus dem Weg ging. Er mied den Kontakt zu mir, weil er seine Enttäuschung und Wut nicht hinter sich lassen konnte. Trotzdem war ich derjenige gewesen, den er angerufen hatte.

„Hat Lenya mit dir gesprochen?", wollte er erfahren. Noch immer starrte er auf seine Flasche. Sie war kaum angerührt. Kleine Wasserperlen hatten Rinnsale gebildet.

Man stellte mir eine Flasche vor die Nase.

„Nein. Sie hat mir zwar ihre Nummer gegeben, aber sie hat mir nur einmal geantwortet und gesagt, sie ist krank", erzählte ich und runzelte die Stirn. Ich war überzeugt gewesen, dass sie bloß Ruhe brauchte und sich erholte, aber Rafaels Gesichtszüge zeugten von blanker Angst und Sorge. „Was ist mit Lenya?"

Rafael nahm eine Hand von der Flasche und fuhr damit über seinen Kopf. Die Nässe an der Handfläche war nun auch auf den Haaren zu sehen. Er wirkte völlig verzweifelt.

Tränen schimmerten in seinen Augen, als er den Kopf drehte und mich ansah. Selbst heute war er noch eine Heulsuse.

„Montag war Lenya bei ihrer Psychologin. Eine ... Notfallsitzung", begann er und wirkte tatsächlich wie der kleine Rafael von damals. „Mein Vater hat mir erzählt, dass Lenya den Unfall zeichnet. Sie hat Montag eine ganze Wand mit der Erinnerung daran vollgeklebt."

Ich weitete die Augen. Mir war bewusst gewesen, dass die Erinnerung an den Unfall ihr zu schaffen machte, aber nicht, dass sie daran zerbrechen könnte. Dass sie Bilder von dem Tag zeichnete, hatte sie mir nicht gesagt. Nicht einmal erwähnt. Die ganze Nacht hatte sie keine Andeutung gemacht, dass es sie beschäftigte. Sie hatte nicht darüber gesprochen.

„Lenya geht nicht mehr nach draußen. Sie will nicht mal mich sehen. Als ich gestern bei ihr war, hat sie total abweisend reagiert. Sie hat mich sogar rausgeworfen. Das passt nicht zu ihr, Akio." Rafael trank aus der Flasche und blinzelte mehrere Male. „Ich will ihr helfen, aber ich weiß nicht wie. Ich komme nicht an sie ran."

Deshalb war ich hier.

Deshalb hatte er mich angerufen.

„Was erwartest du von mir, Rafael? Sie sieht in mir einen Fremden."

„Sie vertraut dir und du ... Du liebst sie noch immer. Wen könnte ich sonst um Hilfe bitten?"

Verfluchte Scheiße.

Jetzt trank ich das Bier, leerte die Flasche bis zur Hälfte. Ich gestand mir ein, dass Lenya meine Welt war und ich sie in meiner Zukunft an meiner Seite haben wollte, aber von Liebe wollte ich nicht laut reden. Das konnte ich nicht. Lenya und meine Freundschaft war nicht mehr das von früher. Sie ließ Körperkontakt zu, hatte in meinem Auto gesessen und mich nach Hause begleitet. Offensichtlich vertraute sie mir, aber das war nichts zu damals. Nichts war wie damals.

Verloren - Zurück im LebenWhere stories live. Discover now