6 - Akio

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2006

„Ich frage mich ja, ob du in diesem Raum allein leben wirst oder ob Lenya und ihr zusammen zieht", sagte Kai grinsend, während er meine Zeichnung betrachtete. Seine Worte brachten meine innere Ruhe zum Einstürzen und ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke.

Von der Fensterbank gegenüber ertönte Vince' Lache, in das Kai mit einstieg.

Ich hustete und drückte meinen Zeichenblock an mich. Das war so verflucht peinlich. Hätte ich meine Gefühle für Lenya bloß besser im Griff, dann würden sie mich nicht dauernd aufziehen. Diese Penner.

„Brauchst du was zu trinken?", triezte Vince.

„Fresse", krächzte ich und zeigte ihm meinen Mittelfinger. Mein Gesicht glühte, was mich während der Schulzeit bereits genervt hatte. Ich war derart schnell rot zu bekommen, dass man solche Gelegenheiten ausnutzte.

„Wenn du endlich zugibst, dass du in sie verknallt bist."

Ich hasste Vincent.

„Es gibt nichts zum Zugeben." Den Zeichenblock verstaute ich in meinem Rucksack und lehnte mich an die kahle Wand. Seit einigen Wochen trafen wir uns nicht mehr im Park sondern kamen in diese Ruine. Es war unser Ort geworden, wo uns niemand finden konnte. Dank Lenya hatten wir einen Platz für uns vier allein.

Fraglich, wie viel Zeit uns hier blieb. Irgendwann würde dieses Haus abgerissen werden, damit etwas Neues entstehen konnte.

„Komm schon. Die werden dich nicht auffressen. Ich bin auch noch da", hörte ich Lenya einen Raum weiter sagen. Sie kam herein, trug löchrige Jeans und einen engen Pullover, der genug ihrer Oberweite preisgab, dass ich mit mir rang, ihr nicht auf die Brust zu starren. Ihre Unwissenheit würde irgendwann mein Tod sein. Sie brachte mich mit ihrer Kleidungswahl ständig durcheinander und regte meine Fantasie an.

„Da bist du ja!", trällerte Kai und wollte seine Freundin begrüßen gehen. Als hinter ihr ein wesentlich jüngerer Bursche hereinkam, stoppte er. Wir kannten ihn. Wenn wir bei Lenya waren, bekam man ihn manchmal zu Gesicht. Er war schüchtern und eine Heulsuse.

„Du schleppst ein Kind an?"

„Ich bin vierzehn", wagte Rafael zu kontern, aber verlor seine Haltung, sobald er Vince in das Gesicht schaute. Vince fiel mit seinem Aussehen auf und strahlte Gefahr aus. Man hielt sich freiwillig von ihm fern. Nur Lenya hatte es nie getan.

„Ein Kind, sag ich doch."

„Sei nicht so gemein, Vince", sagte Lenya und schlug mit ihrem Handrücken gegen Vince' Brust. „Rafe bleibt hier. Er braucht ein wenig Hilfe." Sie winkte ihren Bruder zu sich und überließ ihm die Steinplatte, auf der sonst sie saß. Neben ihm stellte sie ihren Rucksack ab und öffnete ihn, nahm verschiedene Flaschen heraus und stellte sie auf den Boden.

„Was für ein Problem hat er denn?", wollte ich erfahren.

„Sagt er nicht. Ich habe nur mitbekommen, dass er die Schule geschwänzt hat. Er hat mit unseren Eltern gestritten und eigentlich Hausarrest."

Vince schnaubte belustigt.

„Natürlich stellst du dich gegen die Entscheidung deiner Eltern und schmuggelst ihn raus", gab Kai von sich und prustete los. Es war typisch für Lenya.

Ich ging zu den Geschwistern und hockte mich vor den pubertären Jungen. Seine braunen Locken waren lang und ließen ihn wesentlich jünger wirken. Von seinem Gesicht war die Unsicherheit abzulesen. Es war das erste Mal, dass er Zeit mit uns verbrachte und uns richtig kennenlernte.

„Lenya bekommt deinetwegen Ärger", sagte ich und hoffte, er hatte ein Gewissen. Seine Augen flogen gleich zu seiner neunzehnjährigen Schwester. „Würdest du bitte den Mund aufmachen und sagen, warum du die Schule schwänzt?"

Rafael sah wieder zu mir und rang mit sich. Aus seiner Unsicherheit wurde Angst. Die Schule war sein größtes Problem, das war unübersehbar. So klein, wie er sich auf einmal machte und glaubte, das würde ihn schützen.

„Du bist viel zu nett, Akio", meinte Vince und stieß mich zur Seite, um meinen Platz einzunehmen. Dass ich gegen Lenya fiel und sie sich an der Wand abstützen musste, um nicht zu fallen, interessierte ihn kein Stück. Er tat es mit Absicht. Dauernd taten er und Kai etwas, um Körperkontakt zwischen Lenya und mir herzustellen.

„Wer ärgert dich?", fragte nun Vince nach.

„Was?" Rafaels Augen huschten hin und her, als suchte er nach einer Ausrede. „Niemand. Wie kommst du auf sowas?"

„Halt mich nicht für dumm, Kurzer. Du hast eine Scheißangst vor irgendjemandem."

„N-Nein", stotterte Rafael.

„Lass ihn in Ruhe. Er wird irgendwann mit der Sprache rausrücken."

„Je schneller das Problem gelöst ist, umso schneller sind wir den Kleinen wieder los", merkte Vince an, während er sich aufrichtete. Er war über einen Kopf größer als Lenya, dennoch stellte sie sich ihm gegenüber und funkelte ihn bedrohend an.

„Halt die Fresse, okay?"

„Weil ich sage, was die anderen auch denken?"

„Nein, weil du so verdammt arrogant klingst und glaubst, du kannst vor mir meinen Bruder nieder machen."

Ich stöhnte auf und ließ mich neben Rafael nieder, der verstört zu den beiden Streithähnen sah.

„Ich habe noch nicht angefangen. Soll ich anfangen?"

„Fick dich, Vince." Sie trat ihm kraftvoll gegen das Schienenbein und entlockte ihm einen schmerzvollen Laut. Vor seiner Ausstrahlung hatte sie sich nie gefürchtet, es zumindest nicht vor ihm gezeigt. Lenya zeigte niemals ihre Ängste, wenn die Leute dabei waren, die ihr dieses Gefühl gaben. Sie war verflucht mutig.

„Ich kann dich ..." Vince redete nicht zu Ende, grinste dennoch breit. Unsere Freundin starrte ihn wütend an, war rot geworden, weil sie genau wusste, was er sagen wollte. Sex war kein Thema, über das sie redete. Keiner von uns wusste, ob sie jemanden an sich rangelassen hatte.

„Keiner kann dich leiden, Vince", merkte ich an.

„Der Kurze wird mich lieben", prophezeite Vince.

„Bitte guck dir nichts von diesem Spinner ab, Rafe", bat Lenya und begann die Flaschen zu verteilen. Nur Vince gab sie keine. Er musste sich seine Flasche selbst holen gehen, was Lenya mit einem gehässigen Lächeln kommentierte.

Wann würden die beiden je erwachsen werden?

Verloren - Zurück im LebenWhere stories live. Discover now