15

54 12 0
                                    

Akio war in den frühen Morgenstunden eingeschlafen und bekam nicht mit, wie ich ihn zeichnete. Wie ich mich umzog und in meine Schuhe schlüpfte. Das Bild und eine kleine Notiz hinterließ ich ihm, ehe ich die Wohnung verließ und mich auf dem Heimweg machte.

Die ganze Nacht hatten wir gezeichnet und geredet. Er hatte mir von seiner Arbeit erzählt, wie er nach der Ausbildung in einer Bank zu arbeiten angefangen hatte. Wir hatten über jede Zeichnung gesprochen, die er und ich auf Papier gebracht hatten. Den Karton mit den Erinnerungen hatte er nicht geholt, das würden wir nachholen. Die gemeinsamen Stunden mit einem Bleistift und Papier waren so viel wertvoller gewesen.

Ich trug neue Erinnerungen in mir und in meinem Zeichenblock. Darin hatte ich Kai und seine Familie verewigt, hatte Vince und Akio, Rafe und seine Verlobte gezeichnet. Sie waren alle in unterschiedlichen Situationen darin. Von Akio hatte ich eine Zeichnung geschenkt bekommen. Er hatte mich gezeichnet, was ihm gar nicht so leicht gefallen war. Auf seiner Zeichnung lachte ich, hielt Zuckerwatte in der einen Hand und hatte die andere ausgestreckt. Es sah aus, als würde die Hand zu dem Menschen ausgestreckt werden, die das Bild in der Hand hielt. Ich liebte es, das Glück darauf und wie normal ich ausschaute.

Zuhause war mein Vater bereits wach und freute sich über meine Heimkehr. Für ihn entschied ich, den Tag an seiner Seite zu verbringen und seine Sorgen ein wenig zu nehmen. Ich wollte ihn beruhigen, also erzählte ich ihm alles. Von dem Tag im Freizeitpark, von der Schiffsschaukel und der Erinnerung an den Unfall. Ich zeigte ihm die Zeichnungen von dem Unfall und wir redeten über meine Gefühle. Er war der erste, der alles erfuhr und bei dem ich weinte, meinen Schock zeigte und mich in seine schützenden Armen flüchtete.

Danach erzählte ich ihm von Akio, dass er mich im Park gefunden und mit zu sich nach Hause genommen hatte. Dass wir die Nacht mit zeichnen verbracht hatten. Auch diese zeigte ich ihm, redete mit ihm über die Menschen darauf. Selbst ohne Erinnerungen war offensichtlich, wie sehr ich Akio, Kai und Vince liebte.

Wir redeten ununterbrochen, kochten zum Mittag gemeinsam und aßen am Tisch. Es gab vieles zu erzählen. Ich wollte, dass er wusste, wie ich Kai, Vince und Akio getroffen hatte und was das mit mir machte. An diesem Tag machte ich meinen Vater zu meinem Therapeuten, welche ich die kommende Woche besuchen musste.

Wir redeten nicht über damals. Es zählte einzig die jetzige Zeit, alles, was in den letzten Tagen geschehen war. Mir wurde bewusst, wie wenig ich mit meinem Vater gesprochen hatte, was mir leidtat. Ich wollte ihn nicht im Dunkeln tappen lassen.

Irgendwann ging ich duschen und in mein Zimmer. Mein einziges Bild aus der Vergangenheit hing ich über mein Bett an die Wand. Es war alles, was mich mit den drei Männern verband und zeigte, dass sie meine engsten Freunde gewesen waren. Ich hatte sie damals geliebt und tat es noch heute. Selbst unter meinem Erinnerungsverlust hatten sich die Gefühle kein Stück verändert. Mein Herz würde niemals einen von ihnen vergessen.

Mit diesem Gedanken fand ich in einen unruhigen Schlaf. Mich verfolgte der Unfall in meine Träume, was keine Erholung zuließ.

Nachdem ich zwei Nächte mit kaum Schlaf verbracht hatte, fühlte ich mich ordentlich gerädert. Meine Augen brannten, als wären sie trocken und jede Bewegung fiel mir schwer. Ich fühlte mich träge und ausgelaugt. Seltsam, was ein paar Stunden fehlender Schlaf mit dem Körper anrichten konnten.

Meine Verfassung ließ keinerlei Motivation zu, weshalb ich den gesamten Vormittag zuhause blieb und auf der Couch lag. Ich konnte mich nicht aufraffen, zum Park gehen und die Menschen beobachten oder zum Tattoostudio schlendern und mir die neuen Skizzen ansehen. Immer wieder ging ich den Unfall durch. Es gab keinen Moment, in dem ich zur Ruhe kommen konnte. Die Erinnerung zeigte mir, wie es zu meinem jetzigen Leben gekommen war. Der entscheidende Moment, der mein vorheriges Leben ausgelöscht hatte.

Ich wusste, dass ich eine größere Mappe mit mir getragen hatte. Ich erinnerte mich nicht an den Inhalt, aber dass sie mir wichtig gewesen war. Ich hatte sie beim Unfall verloren. Mein Vater und Rafe hatten nichts erwähnt, also glaubte ich nicht, dass man die Mappe ihnen gegeben hatte. Wohin war ich unterwegs gewesen? Was war in der Mappe gewesen? Wieso hatte niemand etwas von meinem Ausflug gewusst?

Ich hatte mir seit meinem Aufwachen all die Fragen gestellt, doch jetzt, seit die Erinnerung zurück war und ich mich an die Mappe erinnerte, waren die Fragen präsenter. Ich brauchte endlich Antworten. Akio, Kai und Vince waren meine einzigen Freunde gewesen. Sie hätten wissen müssen, wo mein Ziel gewesen war, aber keiner von ihnen hatte mir eine Antwort geben können. Nicht einmal meinen Eltern oder meinem Bruder hatte ich etwas erzählt. Ich hatte alles heimlich gemacht. Wieso?

Wieso verdammt?

Eine Hand legte ich meinen Kopf und kniff die Augen zusammen. Der Schmerz ließ seit Samstag kaum nach. Es war vermutlich meine Schuld, weil ich an nichts anderes denken konnte. Weil ich immer wieder die Erinnerung vor mir sah und die Bilder gezeichnet hatte. Weil die Fragen nicht abnahmen, auf die ich keine Antwort wusste. Niemand konnte mir etwas zu meinen Beweggründen sagen.

Es machte mich verrückt. 

Als ein paar Stunden später die Tür geöffnet wurde und mein Vater von der Arbeit kam, stand ich mittig in meinem Zimmer und starrte auf die Wand. Das Regal hatte ich abgehangen, die Bücher darin auf mein Bett gelegt, um Platz zu schaffen. Platz für meine einzige Erinnerung, die seit meinem Erwachen zurückgekommen war.

Die Frau in der Erde.

Die Mutter und ihr Kind. Erst auf dem Sitzplatz, wie der Junge mit dem Finger auf etwas zeigte und die Mutter den Kopf gedreht hatte, sodass ich ein Lächeln zeichnen konnte. Danach wie der Junge im Bus flog. Von der Mutter war nichts zu sehen.

Der Jugendliche mit den Kopfhörern.

Die alte Frau mit dem Rollator.

Geröll, dass den Abhang hinunter fiel.

Selbst das Wetter war deutlich zu erkennen. Ein wenig bewölkt, aber trocken.

Der Bus, wie er auf der Seite gedreht lag. Er war an Bäumen zum Stehen gekommen. Ein Arm, der aus dem Bus hing. Ich hatte dieses Bild zeichnen können, weil ich aus dem Bus geschleudert worden war. Weil ich weiter geflogen war. In meinem Kopf hörte ich Schreie, nicht wissend, ob es meine eigenen oder die der anderen Menschen waren.

Ich fuhr zusammen, als mein Vater mich sachte berührte. Nur für einen winzigen Augenblick sah ich ihm in das Gesicht, dann schloss er mich fest in seine Arme und versperrte mir die Sicht auf die Wand. Auf all die Papiere, die ich daran geklebt hatte.

Hätte ich Farbe benutzt, wäre das Unheil deutlicher zu erkennen. All das Blut, das ich vor meinem inneren Auge sah – Es war die reinste Hölle.

„Ich habe Angst", hörte ich mich flüstern, doch erkannte ich meine eigene Stimme kaum wieder. Die Angst nagte an mir, ließ mich am ganzen Körper beben.

Als würde ich den Unfall wieder und wieder erleben.

„Ist in Ordnung, Schatz." Mein Vater strich mir über den Kopf. „Ich bin hier."

An diesem Tag bekam ich meine erste Notfallsitzung bei meiner Therapeutin. Mein Vater nahm all die Zeichnungen von der Wand ab und überreichte sie der Ärztin, die sechzig Minuten mit mir in einem Raum saß. Sie sah sich die Bilder an, redete und fragte nichts, aber von ihrem Gesicht war das Entsetzen abzulesen. Von mir war der Schock abzulesen. Je länger ich Zeit mit der Erinnerung verbrachte, umso verstörter wurde ich.

Ich wusste es, aber konnte nichts daran ändern.

Letztlich verschrieb sie mir Tabletten.

Verloren - Zurück im LebenWhere stories live. Discover now