18 - Akio

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2006

Vince hob den Bauzaun an, der andere von dem Grundstück fernhalten sollte, und ließ Kai, Lenya und mich zuerst durchgehen, bevor er den Zaun zurück an seinen Platz stellte. Wir wollten schnell in das eingefallene Haus, um dem ungemütlichen Wetter zu entkommen. An Kai waren noch die nassen Spuren zu sehen, die ein Auto hinterlassen hatte, das durch eine Pfütze gefahren war.

„Wir hätten zuerst zu dir gehen sollen", sagte Lenya.

„Nö, so kalt ist es nicht."

„Das nächste Mal hast du einfach einen Stein in deiner Tasche und wirfst nach dem Auto", kommentierte Vince. Er schnippte seine Kippe weg und blies den Rauch aus. „Oder wir lassen den Kampfzwerg los."

Lenya antwortete still mit ihrem Mittelfinger.

„Hast du eigentlich den Job bekommen?", fragte ich, damit die beiden sich nicht schon wieder zofften.

„Ja, bis zum Herbst. Ich hoffe, die Unis melden sich noch."

„Als würden die einen von euch ablehnen." Kai grinste. „Und wenn doch, versucht ihr es nächstes Jahr nochmal."

„Sowieso", antwortete Lenya grinsend, das ihr in der Sekunde aus dem Gesicht fiel, als wir unseren Raum betraten. „Rafe? Was machst du denn hier?" Sie stutzte. Jeder von uns starrte das Häufchen Elend an, das auf dem Boden hockte. Neben ihm lag sein Rucksack. Er sollte noch in der Schule sein, nicht hier.

„Wo sind deine Schuhe?", fragte Kai, was Rafael sich noch kleiner machen ließ.

Lenya drückte mir ihre Tasche gegen die Brust und lief zu ihrem Bruder. Vor ihm ging sie auf die Knie und strich ihm durch das Haar. Rafael hob seinen Kopf nicht, zeigte uns nicht sein Gesicht, aber wir hörten ihn. Er schniefte, schluckte und schluchzte leise.

„Was ist passiert?"

Rafael sagte kein Wort. Er schlang seine Arme enger um seine Beine.

Wir wussten alle, seit Lenya ihn mitgebracht hatte, dass er vor etwas Angst hatte. Er besaß ein Problem, über das er nicht reden wollte. Dieses Problem war größer geworden. An seinem Anblick erkannte ich, dass es sich um Mobbing handelte.

„Wo zum Teufel sind deine Schuhe, Rafe?", wurde Lenya lauter. Sie hatte einen dreistelligen Betrag für die Teile bezahlt, die Rafael sich dauernd am Handy angesehen hatte. Er hatte gesagt, dass er auf einen Rabatt wartete und sie dann von seinem Taschengeld holen würde. Lenya hatte nicht so lange warten wollen und ihn damit zu seinem Geburtstag letzte Woche überrascht.

Und jetzt waren sie weg.

„Scheiße, Rafael, rede mit mir!"

„Ich habe Angst", drang es zu mir hervor. Zitternde Worte.

„Vor wem?", fragte Vince und brachte damit Rafael dazu den Kopf zu heben.

Ich hörte Lenya die Luft scharf einsogen. Rafael war blass und verweint und zeigte einen panischen Ausdruck.

„Du wirst uns sofort sagen, wer dich so zugerichtet hat", forderte Vince. Aus seiner Stimme wurde deutlich, dass er ein Nein nicht akzeptieren würde. Dieses Mal würde Vince sich nicht zurückhalten. Er hatte zwar mehrere Male mit Rafael gesprochen und versucht, das Problem aus ihm rauszubekommen, aber bis zu diesem Zeitpunkt war das Problem nicht als schlimm angesehen worden. Jetzt hatte man Vince' Grenzen gesprengt.

„Bitte, Rafe", flehte Lenya. „Lass dir endlich helfen."

„Halt die Klappe, Lenya. So wirst du gar nichts aus ihm rausbekommen." Vince ging zu ihnen herüber und packte Rafael am Arm, um ihn auf die Füße zu ziehen. Lenya brüllte ihren Freund an, schubste ihn. Ich hätte ihr geholfen und ihren Bruder vor Vince beschützt, aber dieses Mal verstand ich ihn. Dieses Mal musste Rafael sprechen.

Verloren - Zurück im LebenWhere stories live. Discover now