11. Kapitel

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Schaut gerne nochmal beim Prolog vorbei, wenn Teil 1 (Ereignis) und Teil 2 (Zufall) bisher für euch nicht ganz Sinn ergibt, vielleicht wird es dann klarer :)

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Harry:

Es ist dunkel, als ich aus der Trainingshalle trete. Es ist so gut, wie immer dunkel, aber das mag auch daran liegen, dass es Winter ist. Ich ziehe meine Jacke enger um mich und beschleunige meinen Schritt. Der kalte Wind pfeift mir um die Ohren, als ich zum Bus laufe. Verdammt, ich hätte meine Haare ein wenig länger föhnen sollen. Meine Locken gehen mit inzwischen bis kurz über die Ohren. Jetzt gerade stehen sie in alle Richtungen ab, ich habe sie nicht mehr gestylt. Wieso auch? Plötzlich klingelt mein Handy. Ich zucke zusammen. Wer ruft mich denn um diese Uhrzeit an?

„Hi Mum." – „Harry, wo bist du?" – „Ich warte auf den Bus", antworte ich ihr. „Ich habe eine halbe Stunde länger trainiert." – „Ah, das ist gut." Mir war klar, dass sie sich darüber freuen würde. Gestern war ein Turnier und ich bin nur auf dem zweiten Platz gelandet. Ich habe zweimal gepatzt. Einmal bin ich nicht gerade ins Wasser eingetaucht und bei einem anderen Sprung habe ich nur dreieinhalb, anstatt vier Saltos hinbekommen. Mum war nicht sonderlich begeistert – um nicht zu sagen, dass sie sehr enttäuscht war. Ich kann es verstehen, ich habe all diese Sprünge wochenlang geübt. Ich konnte sie alle. Ich bin heute so lange geblieben, bis ich beide gestern verspatzen Sprünge sauber hinbekommen habe. Ich war der letzte im Schwimmbad.

„Iss deine Banane und sei leise, wenn du nach Hause kommst." – „Mache ich." Ich bin immer leise, wenn ich um diese Uhrzeit erst vom Training heimkehre. „Gut. Bis gleich." Sie legt auf. Ich ziehe die Banane aus der Trainingstasche und öffne die Schale. Ich mag Bananen nur bedingt. Ich hasse es nicht, aber es ist auch nicht so, als wäre es mein Lieblingsessen. Vielleicht esse ich sie auch einfach zu oft. Ich setze mich stumm in den Bus und lasse mich von der Musik berieseln, die aus meinen Kopfhörern erklingt. Gut zwanzig Minuten muss ich jetzt fahren. Ich mag diese Zeit, in der Zeit habe ich meine Ruhe und kann über den Tag nachdenken. Ich muss Mum noch sagen, dass ich den Mathetest verhauen habe. Wahrscheinlich wird es nur eine drei. Eine zwei, wen ich Glück habe. Es war nur ein Test, aber sie wird nicht begeistert sein. Ich stehe kurz vor meinem Schulabschluss und ich möchte eine Stipendium bekommen, dafür brauche ich die allerbesten Noten.

Ich schleiche mich ins Haus und streife leise die Schuhe ab. „Harry?", fragt Mum. Sie ist wahrscheinlich schon im Schlafzimmer. „Ja", antworte ich und hänge meine Jacke weg. Danach ist es wieder still. Geschafft lasse ich mich auf mein Bett fallen, nachdem ich im Bad war. Ich will einfach nur noch schlafen.

Plötzlich wird meine Tür geöffnet. Nur einen Spalt breit. Gemma schlüpft in mein Zimmer. „Du bist noch wach?" – „Wir haben Ferien, natürlich bin ich noch wach!", antwortet sie mir amüsiert und setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl. „Wie war das Training?", fragt sie und beißt von einem Schokoriegel ab. „Anstrengend." – „Mhm. Ich hab mitbekommen, was gestern passiert ist." Sie kommt so gut wie nie mit zu einem meiner Turniere. Bestimmt hat sie es von Mum oder Dad erfahren. „Das nächste Turnier wird besser." Es ist ein Versprechen an mich selbst. Und eine Aufforderung, mich mehr anzustrengen und zusammenzureißen. Noch einmal werde ich nicht verlieren.

„Hier." Sie wirft mir einen Schokoriegel zu. Verwundert sehe ich sie an. „Was? Wenn du ihn nicht willst, gib ihn mir wieder", sagt sie sofort. „Ich habe schon Zähne geputzt." – „Na und?" Verwirrt sieht sie mich an und schüttelt leicht den Kopf. Dann grinse ich und öffne die Folienverpackung. Ich habe eine ganze Weile schon keinen Schokoriegel mehr gegessen. Maximal Proteinriegel mit Schokolade, aber die schmecken lange nicht so gut.

„In drei Tagen ist Silvester." – „Mhm. Ich weiß", nuschle ich kauend. „Was hast du vor?", will sie wissen. Irritiert sehe ich sie an. „Was ich vor habe?" – „Das habe ich dich doch gerade gefragt", antwortet sie augenrollend. „Nichts. Lesen oder so, wie immer", entgegne ich. Sie weiß doch, dass ich nicht auf Partys gehe. Mum und Dad gehen meistens mit Freundes etwas essen. Als Kinder waren wir auch oft dabei, aber inzwischen unternimmt Gemma meistens etwas mit ihren Freunden. Ich mag keine Partys. Nein, das kann ich so nicht sagen, ich war noch nie auf einer Party. Ich wurde bisher nie eingeladen.

Gemma spricht es nicht aus, aber ich erkenne es in ihm Blick. Ich seufze genervt und schmeiße die Leere Folienpackung weg. „Lass gut sein, Gemma." – „Du solltest dir wirklich ein paar Freunde suchen." Ich presse die Lippen zusammen und antworte ihr nicht. Stattdessen schüttle ich meine Kopfkissen auf. Es sind zwei. Mit nur einem Kissen kann ich nicht schlafen. Ihre Worte tun weh. Ich hätte gerne Freunde. Wer ist schon gerne komplett allein? Die Leute aus der Schule finden mich seltsam, das war schon immer so. Ich habe Einzeltraining, fast immer. Da findet man keine Freunde. Ich komme klar, so ist es nicht, aber es ist nicht gelogen, dass ich mir ab und zu wünschte, ich würde zumindest meinen Geburtstag oder Silvester nicht allein verbringen. Oder nicht nur mit meiner Familie.

„Mir geht es gut", sage ich daher nur. In den Büchern, die ich lese, haben die Protagonisten fast immer Freunde. Ich frage mich, ob man überhaupt Freunde finden kann, wenn man von null starten muss. Geht das? In den Geschichten lernen die Charaktere sich meistens über gemeinsame Freunde kennen, das würde bei mir nicht gehen. Gemma schweigt. Sie weiß genau, dass ich es hasse, über dieses Thema zu sprechen. Sie hat einige Freunde. Sehr gute sind auch darunter. Ihre beste Freundin kennt sie schon fast ein ganzes Jahrzehnt. „Harry..." Ich sehe zu ihr und ziehe die Decke höher. Fragend sehe ich sie an. „Was? Willst du mir wieder sagen, dass ich zu allein bin? Keine Freunde habe? Danke, das weiß ich." Es ist mein wunder Punkt, meine Schwester weiß das ganz genau.

Sie schüttelt den Kopf. „Nein, nicht direkt." – „Nicht direkt?" Ja, danke. „Ich werde dieses Jahr in London Silvester feiern." – „Okay", erwidere ich. „Dich wundert das nicht?" Überrascht sieht sie mich an. Ich zucke mit den Schultern. „Du bist doch im Sommer dahin gezogen, um zu studieren. Da sind viele deiner neuen Freunde", erwidere ich lediglich. Sie nickt verstehend. „Mum findet es nicht toll, aber sie lässt mich fahren." – „Du bist erwachsen, Gemma." – „Du auch", antwortet sie sofort. Ja, auf dem Papier bin ich erwachsen, aber wir wissen beide, dass das nicht so einfach ist. „Und?" – „Komm mit", sagt sie dann. Perplex sehe ich sie an. „Was?" – „Komm mit. Feier mit uns Silvester." Bitte was?

Kurz glaube ich, ich höre nicht richtig. „Du willst mich mitnehmen." – „Meine Güte, ja. So unrealistisch?" Ich möchte nicht nicken, aber ich schüttle auch nicht den Kopf. Stattdessen sehe ich sie nach wie vor ungläubig an. Gemma verdreht die Augen. „Harold." So heiße ich nicht, aber sie nennt mich immer schon so, wenn sie von mir genervt ist. Das wird sich vermutlich niemals ändern. „Wieso willst du mich dabeihaben?", frage ich sie. Sie hat mich noch nie mit zu einer Party genommen, ich verstehe diese Idee nicht. Es kam mir nie in den Sinn, mir ihr in Englands Hauptstadt zu feiern. Der Gedanke daran ist komisch.

„Es war doch sowieso geplant, dass du mal nach London kommst, wenn ich dort einziehe." Bisher hatte ich immer Training, Klausuren oder Turniere. Es hat nie geklappt. „Aber das ist in drei Tagen?" –„Ja." – „Uhm... ich weiß nicht." Ich bin immer noch skeptisch. „Hast du mit deinen Freunden denn darüber gesprochen? Wo schlafe ich denn dann? Oder fahre ich nachts noch zurück? Und sind die okay damit?", will ich wissen. „Du pennst einfach auf dem Sofa oder so, wir finden schon was", antwortet sie optimistisch. „Und du bist mein Bruder, wieso sollten meine Freunde was dagegen haben?" – „Uhm... vielleicht finden sie mich seltsam?" So wie alle anderen, die nicht gerade mit mir verwandt sind. „Sie kennen dich doch noch gar nicht." – „Ich war noch nie auf einer Party", argumenteire ich weiter. „Dann trinkst du eben nur ein Bier und danach Cola oder sowas. Du musst dich ja nicht direkt abschießen." Ich habe noch nie Alkohol getrunken. Gemma weiß das ganz genau. Ich glaube, Bier würde mir nicht einmal schmecken.

Meine Skepsis will ich verschwinden. „Wie soll ich das bezahlen? Ich habe keinen Job." – „Die Bustickets sind nicht teuer." – „Ich weiß nicht..." – „Komm schon. Das wird lustig." – „Und du willst mich wirklich dabei haben?" – „Wir haben ewig nicht mehr Silvester zusammen verbracht", nickt sie. Ich sehe sie weiterhin unschlüssig an. Irgendwas ist da noch. Ihr Blick und Gesichtsausdruck verrät es mir. Nach einer Weile seufzt Gemma. „Schön, Mum will mich nicht allein fahren lassen." – „Ich dachte du bist erwachsen und dir ist egal, was sie dazu sagt?" – „Egal ist es mir nicht. Nur verbieten kann sie es nicht. Außerdem ist alles andere nicht gelogen, was ich gerade gesagt habe", beteuert sie.

„Kann ich es mir bis morgen überlegen?" – „Aber nur bis zum Frühstück, ich will die Bustickets buchen." – „Mhm, okay." Ich müsste genug Geld haben. So teuer können diese Tickets schließlich nicht sein, oder? Und ich könnte direkt am ersten Januar wieder zurückfahren, so würde ich nur ein Trainingstermin verpassen. Immerhin ist Silvester, da ist es doch in Ordnung, mal nicht zu trainieren, oder?  

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Silvester in London. Meint ihr, Harry fährt mit? 

Love, L

Under The SurfaceOù les histoires vivent. Découvrez maintenant