Kapitel 17

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Chris fuhr nicht gleich los. Selbst nicht, als ich die Haustür hinter mir schloss, wie sie es sonst immer tat. Ich beobachtete sie noch ein, zwei Minuten von meinem Küchenfenster aus, wie sie einfach nur in ihrem Wagen saß und nach vorne blickte. Sie machte keine einzige Regung. Nach einer schieren Endlichkeit brachte sie ihren Wagen schließlich ins Rollen und war wenig später außerhalb meiner Sichtweite. Wenigstens konnte ich jetzt das Licht anschalten und musste nicht in meiner stockdunklen Wohnung herumstehen. Doch ich rührte mich nicht.
Ich ließ meinen Blick über die Lichter der Stadt gleiten und versuchte, diese Gefühle in mir zu bändigen. Diese Gefühle, die Chris in mir auslöste, selbst wenn sie mich nur ansah. Sie waren einfach da. Und sie wurden immer stärker. Ich hatte gehofft, dass sie wieder verschwinden würden. Dass sich das alles nur um eine anfängliche Schwärmerei halten würde und irgendwie hoffte ich das immer noch. Tief im Inneren wusste ich aber, dass es das nicht war. Ich wusste, dass ich erst seit einer kurzen Zeit in L.A. war, aber selbst in diesen Wochen hatte Chris etwas in mir hervorgerufen, dass ich weder leugnen noch wahrhaben wollte. Etwas, dass ich eigentlich für immer in mir begraben wollte. Und das sollte auch so bleiben. Denn sonst würde das alles in eine ganz falsche Richtung laufen, die mir am Ende nur das Herz brechen oder den Job kosten würde.
Die Nacht verbrachte ich den Großteil wieder wach. Ich würde es auf die Drinks schieben, die in meinem Magen rumorten, aber da ich nichts Alkoholisches zu mir genommen hatte, fiel diese Ausrede wohl raus. Irgendwann in den frühen Morgenstunden schaffte ich es dann endlich für einige Stunden zu schlafen. Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war es fast Mittag, aber da ich sowieso freihatte, war das kein Problem. Ich kroch aus meinem Bett und weckte mich mit einer eiskalten Dusche etwas auf. Den Rest des Tages verbrachte ich größtenteils auf dem Sofa und schaute meine Serien, bis ich mir abends eine Pizza in den Ofen schob und nach dem Essen auf dem Sofa einnickte.
Ich hatte ganz vergessen, wie langweilig es sein konnte, ein ganzes Wochenende alleine zu Hause zu sitzen. Selbst Gossip Girl wurde irgendwann langweilig. Was die anderen wohl während ihrer freien Tage anstellten? Von Tan wusste ich, dass er und Molly übers Wochenende nach Vegas reisen wollten. Deacon würde sicherlich Zeit mit seiner Familie verbringen, die durch seine Arbeitszeiten viel zu kurz kamen. Was der Rest des Teams machte, wusste ich nicht. Ob sie auch nur herumlagen und Löcher in die Decke starrten? Das bezweifelte ich.
Ich rappelte mich am Nachmittag doch noch auf und lief durch den Park. Tagsüber war es mittlerweile schon richtig warm geworden. Danach legte ich eine ungeplante Shopping-Tour ein, bei der ich mir sogar das ein oder andere neue Kleidungsstück zulegte. Ich würde es dennoch mit Online-Shopping versuchen. Darin war ich schon immer besser gewesen.
Am Sonntag entschloss ich mich, meiner alten Nachbarin einen Besuch abzustatten. Rosie freute sich riesig, als sie mir die Tür öffnete und versorgte mich gleich mit einem Tee und ihren köstlichen selbstgebackenen Keksen. Wir unterhielten uns eine Weile über meinen Job und wie ich mich in L.A. eingelebt hatte. Aber auch über ihre Tochter, die gerade mit ihrem Mann eine Wandertour veranstaltete und Ms. Jenkins nächste Woche besuchen würde. Zum Abschied gab sie mir drei Portionen von ihrem Gemüsereis mit Hähnchen und Kuchen mit. Gott sei Dank, wenigstens hatte ich etwas Richtiges zu Essen für die nächsten Tage. Wenn ich spätabends von der Arbeit wiederkam, hatte ich wenig Lust, noch frisch zu kochen. Daher griff ich meistens auf Tiefkühl-Essen und Fertig-Dosen zurück.
An meiner Tür angekommen, bemerkte ich die Post, die auf meinem Türvorleger lag. „Komisch", murmelte ich und hob sie auf, während ich die Dosen in meiner rechten Hand balancierte. Ich klemmte mir die Briefe und Zeitungen unter den Arm und schloss die Tür auf. Niemand legte mir meine Post vor die Tür, nicht einmal Rosie und von den anderen beiden Frauen hatte ich noch nicht eine zu Gesicht bekommen. Blieb nur noch der Mann von letztens übrig, aber warum sollte er mir meine Briefe vor die Tür legen? Ich beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Es war sicherlich nur als nette Geste gemeint und außer Rechnungen war bei den Briefen auch nichts Weltbewegendes dabei.
Ich packte am Abend gerade meine Tasche für die Arbeit, als mir ein Karton im hintersten Teil meines Kleiderschrankes ins Auge stach. Meine Sportsachen ließ ich achtlos aufs Bett fallen und zog ihn heraus. In diesem Karton bewahrte ich alte Bilder auf, die ich bei meinem eiligen Auszug noch mitnehmen konnte. Die meiste waren bereits über fünfzehn Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch ganz schiefe Zähne und wasserstoffblondes Haar gehabt. Auf dem Bild in meiner Hand schielte ich mit einem frechen Grinsen in die Kamera. Neben mir Mom, die meinen jüngeren Bruder Theo im Arm hielt. Ihr Bauch war kugelrund. Bei diesem Ausflug war sie hochschwanger mit April gewesen. Es fühlte sich an, als stamme das Foto aus einem anderen Leben. Dabei wusste ich noch alles, als wäre es gestern gewesen. Mom und Dad hatten spontan beschlossen, an den Strand zu fahren. Es war ein heißer Julitag gewesen. Solche Tage, an denen man selbst im Schatten schwitzte. Ich hatte nach diesem Tag einen solchen Sonnenbrand, dass ich am ganzen Körper krebsrot war. Aber die Krönung war, dass Mom ihre Wehen auf dem Nachhauseweg bekommen hatte. Und dann war April da.
Ich merkte erst, dass ich weinte, als meine Tränen auf das Bild tropften. Schnell wischte ich die nasse Stelle mit meinem Ärmel ab und legte das Bild zurück. Nur kurz sah ich mir den Bilderrahmen an, der ganz oben lag. Das war das letzte Bild, was wir zusammen gemacht haben. Es war kurz vor meinem Abschluss. Theo war schon größer als ich und sogar April reichte mir dort schon bis zur Brust. Ich vermisste sie. Sehr. Und es zerbrach mir das Herz, dass ich nicht wusste, wie es ihnen ging. Ich wusste nicht, ob Mom ihre Kochsendung immer noch jeden Abend um Punkt sieben Uhr sah und ob Dad sich immer noch darüber beschwerte, sich die Sendung aber dann trotzdem mit ansah. Ich wusste nicht, ob Theo mit 19 immer noch Sakteboard fuhr und ob er es inzwischen geschafft hatte, sich seinen Arm ein drittes Mal zu brechen. Ich wusste auch nicht, ob April immer noch auf Rosa stand oder Ian Sommerhalder schon wieder out war - sie müsste jetzt immerhin schon 16 sein. Es gab unendlich vieles, was ich nicht wusste, aber als große Schwester und Tochter wissen sollte.
Tränen verdeckten meine Sicht. Widerwillig legte ich auch den Bilderrahmen zurück und schob den Karton an seinen Platz zurück. Mir war klar, dass es am besten war wie es war. Sie waren in Sicherheit. Ich war in Sicherheit. Es war sicherlich nicht die leichteste Entscheidung gewesen, aber einen anderen Weg hätte es nicht gegeben. Diesen Teil meines Lebens musste ich hinter mir lassen und nach vorne blicken. Und bis jetzt sah es gar nicht schlecht aus in Los Angeles. Ich besaß eine Wohnung, die völlig in Ordnung war, hatte einen Job, den ich liebte und bei dem ich nicht mehr nur am Schreibtisch saß, hatte neue Freunde gefunden. Es fehlte mir an nichts - abgesehen von meiner Familie. Aber ihre Sicherheit bedeutete mir mehr als alles andere. Lieber würde ich sie den Rest meines Lebens nicht sehen, als einen von ihnen in Gefahr zu bringen.
Nach unserem Kurzurlaub fuhr ich besonders früh zur Arbeit. Natürlich nicht, weil ich mich wieder die ganze Nacht von der einen Seite zur anderen gedreht habe. Ich hoffte, dass die anderen noch nicht da waren und ich mich in Ruhe im Trainingsraum aufwärmen konnte. Meine Hoffnungen lösten sich jedoch gleich in Luft auf, als ich Deacons und Chris' Auto auf dem Parkplatz sah.
Da ich beim Umziehen alleine war, nahm ich an, dass Chris entweder im Trainingsraum war oder im Departement herumschwirrte. Meine Frage beantwortete sich von selbst, als ich Chris' Schläge auf den Boxsack schon im Flur hören konnte. Sie war die Einzige, die mit solcher Schnelligkeit auf den Sackt schlug. Dass sie sich dabei noch keine ihrer Schultern ausgekugelt hatte, wunderte mich.
Chris bemerkte mich gleich, als ich durch den Eingang kam. Am liebsten wäre ich wieder rückwärts heraus spaziert, doch als ihre dunklen Augen mich ansahen, wurde ich zurück in die Situation im Auto katapultiert. Das ganze Wochenende musste ich daran denken.
„Hey, Gwen." Chris zog ihre Handschuhe aus und lächelte mich fröhlich an. Ich stutzte. „Wie war dein Wochenende?" Ich war viel zu perplex, um sofort zu antworten. Tat sie so, als wäre nichts vorgefallen? Oder war für sie nichts vorgefallen? Ich hatte mir den ganzen Weg hierher darüber den Kopf zerbrochen, ob es komisch zwischen uns wäre und dabei benahm sich Chris wie immer.
„Ereignislos", brachte ich endlich heraus und zog mir meine Handschuhe über. „Was ist mit dir?" Ohne, dass ich Chris fragen musste, stieg sie mit mir in den Ring und nahm sich das Polster, das an der Seite lag. „Ereignisreich", antwortete sie und fing meinen Schlag ab. Ich machte zehn Schläge, bis sie weitersprach. „Mein Onkel hat Geburtstag gefeiert. Ziemlich große Feier mit noch mehr Leuten." Sie hielt meinen Schlag mit scheinbarer Leichtigkeit entgegen. „Dann habe ich mit Street den neuen Chinesen ausprobiert." Meine Schultern begannen, sich anzuspannen und meine Arme brannten bereits, aber ich dachte nicht daran, aufzuhören. „Und?", hakte ich nach. „Zu deiner Zufriedenheit?" Hinter dem Polsterkissen konnte ich sehen, wie sie lächelte und dann nickte. „Ich schick' dir die Adresse, dann können wir mit den Anderen zusammengehen." Ein dumpfes Pochen in meinem Bauch. Mit den Anderen. Super.
„Sicher", antwortete ich. Damit schien das Gespräch beendet zu sein. Und viel wichtiger war, dass es mir zeigte, dass das im Auto nur Einbildung war. Reine Fiktion, die mein Gehirn sich zurechtgelegt hatte. Wunschdenken. Es existierte nur in meinem Verstand. Das war rein gar nichts. Und das war auch gut so. Das versuchte ich mir auf jeden Fall einzureden.
Mein Magen knurrte schon, als wir mit dem Training fertig waren. Glücklicherweise schien Tan Gedanken lesen zu können, denn als ich in die Küche kam, schob er mir gleich einen Teller mit Rührei und Speck rüber. Außer Street, der mit traurigem Blick auf mein Frühstück seine Haferflocken aß, war niemand hier. Hondo, Deacon und Luca waren in einer Besprechung mit Cortez' und Hicks wegen eines Einsatzes und Chris meinte, sie musste noch etwas klären und war dann verschwunden.
„Street hat übrigens eine neue Bekanntschaft gemacht", meinte Tan als er sich gegenüber von mir hinsetzte.
„Schon wieder?", fragte ich grinsend und spießte ein Stück Speck auf. Street verschluckte sich beinahe an seinem Haferschleim. „Was heißt denn schon wieder?", wollte er aufgebracht wissen. „Das letzte Mal ist schon eine Ewigkeit her. Aber dieses Mal könnte es etwas Festes werden. Da bin ich mir sicher." Ja, das hatte er schon ein paar Mal gesagt und es hat nie länger als für ein Wochenende gereicht. Ein bisschen leid tat er mir. „Ach, ja?", kam es von Tan. Die Ironie in seiner Stimme war nich zu überhören und heimste ihm einen bösen Blick von Street ein. „Ja", sagte dieser fest. „Sie heißt Katie. Und sie ist wirklich hübsch und schlau. Und sie arbeitet in einer Kanzlei."
Tan pfiff anerkennend. „Warten wir es ab, Street."
„Apropos abwarten", fuhr Street fort. „Wie steht es mit deiner Hochzeit? Habt ihr schon einen Termin?" Tan schüttelte den Kopf. „Nein, aber die Verlobungsfeier ist in zwei Wochen. Ihr seid beide natürlich herzlich eingeladen. Selbstverständlich auch mit Begleitung." Er zwinkerte Street übertrieben zu, woraufhin ich lachen musste. Streets und Tans Duelle waren einfach immer hinreißend.
„Ihr wollte eure Verlobungsfeier so kurz vor der Razzia machen?" Da wurde ich hellhörig. „Razzia?", wiederholte ich und sah die beiden abwechselnd fragend an. Davon hörte ich zum ersten Mal. Und wenn eine Razzia bereits Wochen vorausgeplant wurde, war es meistens ein großes Ding.
Tan erbarmte sich schließlich, mir den Stand der Dinge zu erklären. „Ja. Seltsam, dass Hondo dich noch nicht eingeweiht hat. Die Razzia wird schon seit Monaten geplant. Aktuell ist der Termin nächste Woche, aber wer weiß, ob Cortez und Hicks den Plan schon wieder geändert haben. Das LAPD will einen Teil der Bloods hochnehmen. Die arbeiten da schon seit Ewigkeiten dran, dieses mordende Drogendreieck hochzunehmen. Ich hoffe nur, dass alles gut läuft. Bonnie bringt mich um, wenn ich blaue Flecken zur Feier habe oder tot bin."
Die Bloods. Ich war mir sicher, dass ich diesen Namen in einigen Akten gelesen habe, aber ein richtiges Bild erschien mir auch nicht. Das bedeutete wohl, dass ich mich noch einmal durch die Akten wühlen musste.
„Leute!" Luca riss die Küchentür mit einem solchen Schwung auf, dass sie gegen die dahinterliegende Theke knallte. „Überfall auf einen Supermarkt." Ich steckte mir noch eine Gabel voll Rührei in den Mund und sprintete dann den drei Jungs hinterher.

everything i ever wantedWhere stories live. Discover now